Logbuch

[DREI FRAGEN AN] José, Research and Evidence Officer an Bord der Ocean Viking

«In einem Teil der Welt wollen Menschen abnehmen, in einem anderen Teil hoffen sie, See ihr Leben nicht auf See zu verlieren.»

José ist Research and Evidence Officer an Bord der Ocean Viking. Seine Arbeit ist nicht sehr bekannt, aber sehr wichtig. Er erklärt was seine Aufgaben sind und was er sich für 2020 wünscht.

1. Kannst du dich und deine Position an Bord der Ocean Viking kurz vorstellen?

Mein Name ist José, ich bin 57 Jahre alt und lebe auf Mallorca (Spanien). Es ist mein erster Einsatz für SOS MEDITERRANEE. Ich bin ein Reserveoffizier der Marine, ein Versorgungsoffizier. An Bord der Ocean Viking bin ich während der fünften Rotation* als sogenannter Research and Evidence Officer (REO) tätig. Meine Aufgabe ist es, alle Informationen über unsere Einsätze zu dokumentieren und Belege zu sammeln. Ich halte den zeitlichen Ablauf der Ereignisse während der Such- und Rettungseinsätze fest. Ich nehme alle Gespräche (Funk, VHF, Telefon, Mails), Handlungen und Entscheidungen an Bord der Ocean Viking auf und archiviere sie. Ausserdem verfolge ich den Kurs unseres Schiffes auf der elektronischen Seekarte und auf dem Radar.

Die Einsätze von SOS MEDITERRANNEE sind sehr transparent. Wir haben ein Online-Logbuch, http://www.onboard.sosmediterranee.org/, das ich täglich mit den wichtigsten Ereignissen aktualisiere. Dort können Interessierte Einzelheiten darüber erfahren, wie wir internationales Seerecht befolgen, wie wir die Seebehörden um Koordination bitten und wann und an wen wir uns wenden, um einen sicheren Ort für die Überlebenden an Bord anzufragen. Diese Arbeit ermöglicht es unseren Teams, auf unsere Handlungen zurückzublicken und unsere Abläufe zu verbessern. Es ist auch ein sehr wirkungsvolles Instrument, um über die Situation im zentralen Mittelmeer zu berichten – eines unserer Hauptmandate.

2. Was sind deine Wünsche für das Jahr 2020?

Wie viele Menschen in meinem Alter in Europa möchte ich abnehmen, etwa fünfzehn Kilo wären toll, aber mit zehn könnte ich auch leben. Ich wünsche mir aber vor allem, dass Menschen, die unter weniger begünstigten Bedingungen leben als die europäische oder sogenannte westliche Bevölkerung, nicht mehr das Risiko eingehen müssen, auf See zu sterben. Denn bis heute ist der Weg übers Mittelmeer leider oft der einzige Ausweg den internationale Regierungschef*innen den Menschen, die vor allem in Libyen in Gefahr sind, lassen. Sie haben keine andere Möglichkeit als unter sehr gefährlichen Bedingungen zu fliehen (in seeuntauglichen Booten, ohne ausreichend Nahrung und Trinkwasser, ohne Schwimmwesten, bei schlechtem Wetter…) und den Weg über das Meer zu riskieren. Ich denke meine beiden Wünsche veranschaulichen die Tragik und die Widersprüchlichkeit der Situation auf der Welt: In einem Teil der Welt wollen Menschen abnehmen, in einem anderen Teil hoffen sie, See ihr Leben nicht auf See zu verlieren.

3. Was ist deine Botschaft an die Unterstützer*innen von SOS MEDITERRANEE?

Zuerst möchte ich allen unseren Unterstützer*innen für ihren wichtigen Beitrag danken. Ohne ihr Engagement wäre keine unserer Aktionen möglich. Ich bin sehr dankbar für den grosszügigen Beitrag der privaten Spender*innen, die unsere Arbeit fast vollständig finanzieren. Sie erlauben SOS MEDITERRANEE bestmöglich zu arbeiten: mit einem guten Schiff wie der Ocean Viking, mit professionellen Crewmitgliedern und guter Ausrüstung, die den Überlebenden, aber auch unserer Crew, die höchstmögliche Sicherheit bei den Einsätzen bietet. Und das Geld wird gebraucht. Jeder Tag auf See kostet 15.000 CHF. Gleichzeitig ist Geld nicht alles. Ich möchte auch meine aufrichtige und tiefe Dankbarkeit für die Freiwilligen ausdrücken. Sie nehmen sich bei verschiedensten Anlässen, von Festivals bis hin zu Konzerten, Konferenzen oder Schulbesuchen, die Zeit, Aufmerksamkeit für unsere Arbeit zu schaffen. Es ist wichtig, ein grosses Publikum zu erreichen und vor allem den jungen Generationen zu erklären, was im zentralen Mittelmeerraum geschieht. Die Situation kann sich nicht ändern, wenn die Menschen sich dessen nicht bewusst sind und den schwierigen Kontext, in dem wir arbeiten, nicht verstehen. All diese gesammelte Unterstützung macht SOS MEDITERRANEE zu der Organisation, die sie ist.

 

* eine Rotation umfasst den gesamten Zeitraum zwischen zwei regulären Hafenaufenthalten bei denen Treibstoff und Vorräte an Bord gebracht werden sowie Teile der Crew wechseln

Foto : Laurence Bondard / SOS MEDITERRANEE