
[BORD-TAGEBUCH] „Nach mehreren Einsätzen als Seenotretter für SOS MEDITERRANEE habe ich mir die Aquarius als Tattoo auf den Arm stechen lassen. Weil ich stolz darauf bin, was ich tue.“
Alessandro, Rettungsteammitglied und Vorstandsvorsitzender von SOS MEDITERRANEE Italia
„Nach mehreren Einsätzen als Seenotretter für SOS MEDITERRANEE habe ich mir die Aquarius als Tattoo auf den Arm stechen lassen. Weil ich stolz darauf bin, was ich tue.“
Der ehemalige IT-Experte Alessandro, 40, lebt in Italien. Als Ersthelfer für das Italienische Rote Kreuz erlernte er das Segeln und wurde 2017 Teil des Teams von SOS MEDITERRANEE. Seit dem 15. Januar 2020 steht er vor einer neuen Herausforderung: die ehrenamtliche Vorstandspräsidentschaft für SOS MEDITERRANEE Italia.
Wie bist du vom Roten Kreuz zu SOS MEDITERRANEE gekommen?
Als Freiwilliger des italienischen Roten Kreuzes bin ich Ersthelfer auf Krankenwagen, für Notfälle an Land, aber auch auf dem Wasser wie etwa bei Wettbewerben, Regatten oder Canyoning… und bin auf Seen, Flüssen oder im Meer mit dem RHIB* im Einsatz. Aber im Grunde bin ich Sanitäter, kein Seemann. Also habe ich mich um die erforderlichen Bescheinigungen gekümmert und bin im Juli 2017 für meinen ersten Einsatz an Bord der Aquarius gegangen. Die Einsätze des Roten Kreuzes sind viel einfacher, da sich zwei oder drei Freiwillige um einen oder zwei Verletzte kümmern. Auf See sind wir drei bis sechs Seenotretter*innen, die für 70 bis 200 Menschen verantwortlich sind!
Was hast du von deinem ersten Einsatz gelernt?
Der technische Aspekt der Rettung dauert nur wenige Stunden. Aber den Geretteten zur Seite zu stehen, nimmt viel mehr Zeit in Anspruch, manchmal bis zu 15 Tage. Am schwierigsten ist es, nett, glücklich und klug zu bleiben, wenn man Menschen sterben, leiden, weinen und manchmal kämpfen sieht. Das ist ein wirklich schweres Thema. An Bord tauschen wir Geschichten aus: 2018, bei meinem letzten Einsatz auf der Aquarius, fühlte ich mich einem Syrer meines Alters sehr verbunden. Er war über Jordanien, Ägypten und Libyen aus seinem Land geflohen. Er war geschieden und musste nach Europa, um seine Kinder wieder zu finden. Wir hatten vieles gemeinsam: Hautfarbe, bürgerliche Herkunft, eine ähnliche Arbeit… Aber ich habe einen Reisepass und kann reisen. Er nicht.
Wurdest du mit politischen Schwierigkeiten konfrontiert?
Die Menschen, die wir retten, sind hier, weil sie ihre Heimat aufgrund von Kriegen, wirtschaftlichen Krisen und auch wegen des Klimawandels verlassen müssen. Pflanzen wandern aufgrund des Klimawandels von Süden nach Norden. Warum sollten Menschen nicht das Gleiche tun? Wir sind wie ein Krankenwagen: Wir fragen eine Person, die verwundet ist oder sich in Todesgefahr befindet, nicht, warum sie hier ist. Die Rettung von Menschen auf See ist verpflichtend, auch wenn sie manchmal als politisches Statement aufgefasst wird. Obwohl wir auf der richtigen Seite stehen und das internationale Seerecht respektieren, gefällt nicht jedem, was wir tun. Wir müssen uns mit der Öffentlichkeit, den Medien, auseinandersetzen und wir müssen unsere Arbeit auf die richtige Art und Weise präsentieren. Ich habe mir die Aquarius auf den Arm tätowieren lassen, weil ich stolz auf das bin, was ich tue.
Was ist deine Priorität als Vorstandspresident?
In Italien gibt es viel zu tun. Wir müssen unser Team professionalisieren, unsere Koordination verbessern. Wir brauchen mehr Freiwillige, die in der Lage sind, sich um andere Freiwillige zu kümmern. All dies erfordert Energie und Strukturen. Wir sind auf Ressourcen, Ausbildung und Vertrauen angewiesen. Ein Schiff auf See zu halten, ist kostspielig. Deshalb besteht unsere tägliche Arbeit darin, Kampagnen in ganz Italien zu organisieren sowie Strukturen und Mittel zu beschaffen. Unterstützung kommt aus der Zivilgesellschaft, von Bürger*innen jeden Alters und jedweder Herkunft. Nachdem im Jahr 2018 die italienischen Häfen geschlossen wurde, hat das viele Bürger*innen mobilisiert. In eineinhalb Jahren haben wir 120-mal öffentlich über die Situation im zentralen Mittelmeer gesprochen und damit 10 000 Menschen erreicht. Wir bauen neue Freiwilligengruppen auf, die salvagente (Rettungsboje) genannt werden – in ganz Italien. Unser Ziel ist es, innerhalb von sechs Monaten 100 neue Freiwillige für SOS MEDITERRANEE zu gewinnen. Eine neue Herausforderung, die viel Büroarbeit zwischen Mailand, Florenz, Marseille und Siena bedeutet… das Privatleben bleibt teilweise auf der Strecke, aber für die richtige Sache!
*RHIB = Rigid-Hull Inflatable Boat (Rettungsboot)