Logbuch

[STIMMEN DER GERETTETEN] „Sie sagten uns, es würde 3 – 4 Stunden dauern, um Europa zu erreichen.“

Testimony vom 14.06.2018 an Bord der Aquarius

Hallo, mein Name ist Muhammad*. Ich komme aus Nigeria; ich bin 18 Jahre alt. Meine Eltern habe ich mit 11 Jahren bei einem Autounfall verloren. Seitdem haben mich meine Grosseltern aufgezogen. In meinem Heimatland ohne Eltern aufzuwachsen, war das Schwierigste für mich – bis ich Libyen erreichte.

Warum ich das sage? Weil Libyen für niemanden ein Ort ist, an dem man leben kann. Sie nehmen dir alles, auch deine Seele, und zermahlen sie. Libyen ist ein Ort voller Gewalt, an dem viele Menschen vergewaltigt und ermordet werden. Ich bin froh, dass ich keiner von ihnen war. Um der Gewalt zu entkommen, bezahlte mir ein Freund meiner Eltern einen Platz auf einem Boot auf dem Weg zu einem besseren Ort.

Irgendwann mitten in der Nacht bestieg einer der hellhäutigen Männer das Boot und sagte uns, „fahrt gerade aus“, er zeigte auf ein paar Sterne und fügte hinzu „Folgt denen… sie bedeuten Norden, ihr müsst nach Norden, um an Land zu kommen.“ Er sagte, dass es drei bis vier Stunden dauern würde, bis wir ankämen. Ich hatte schreckliche Angst, war aber auch erleichtert, dass die Freiheit so greifbar war.

Wir waren 135 Menschen in dem Schlauchboot. Es war vollkommen dunkel, als wir ablegten. Leider hatte niemand von uns eine Rettungsweste. Sie wollten von uns sehr viel Geld für die Westen, aber keiner von uns hatte genug, um sie zu bezahlen. Wir verbrachten fast 24 Stunden auf See; wir legten am Freitag um 21:00 Uhr ab und wurden am Samstag um 21:00 Uhr von euch gerettet. Bevor wir gerettet wurden, hatte sich unser Boot bereits zur Hälfte mit Wasser gefüllt – die anderen und ich hatten schreckliche Angst. Als ich ins Meer fiel, war es kalt und dunkel; ich war ohne jede Sicherung, Menschen rissen an mir, einfach an allem, woran man sich festhalten konnte, um zu überleben. Es kostete mich all meine Kräfte, um eine der Rettungswesten zu erreichen, die ihr ins Wasser geworfen hattet. Nach ein paar Versuchen schaffte ich es, eine zu greifen und rief um Hilfe! Ich wurde gerettet und wurde medizinische versorgt.

Jetzt geht es mir wieder besser und ich kann mich meinem grössten Ziel widmen: studieren und Arzt werden. Ich will Leben retten. Ich will, dass mein Land, dass die Welt stolz auf mich ist. Am Ende des Tages möchte ich ein Arzt sein, um meinem Land zu helfen, weil so viele Menschen in Afrika leiden. Mein Traum war es immer, Arzt zu werden und Leben zu retten und jetzt, da ich das alles real auf diesem Schiff sehe, weiss ich, dass das für immer mein Traum bleiben wird.

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*Name von der Redaktion geändert.
Photo & Interview: Kenny Karpov