Logbuch

[BORD-TAGEBUCH] Crewmitglied Julia berichtet von drei Einsätzen im Oktober 2019

Julia war als Kommunikationsbeauftragte im Herbst 2019 an Bord der Ocean Viking und gehört zum festen „Operations“-Team.

Der erste Einsatz der Ocean Viking im Oktober 2019 ist keine Rettung, sondern eine Suchaktion. Am Morgen des 7. Oktober, noch auf dem Weg in die Such- und Rettungsregionen im zentralen Mittelmeer, bietet die Ocean Viking der italienischen Seenotleitstelle Hilfe an: Am Abend zuvor war südlich von Lampedusa ein Holzboot mit ungefähr 50 Menschen an Bord gekentert. 22 Personen konnten gerettet werden, 13 Todesopfer wurden noch in der Nacht geborgen. Die Überlebenden berichten, dass unter den Vermissten mehrere Kinder sind. Von der zuständigen lokalen Behörde bekommt die Ocean Viking die Koordinaten. Innerhalb derer fahren wir die See ab, die in diesen Tagen besonders rau ist. Gleichzeitig sucht das Such- und Rettungsteam die Wasseroberflache und den Horizont mit Fernglasern ab. Die Bedingungen sind mit Wellen von bis zu drei Metern Hohe und 35 Knoten Wind sehr schlecht. Bei Einbruch der Dunkelheit muss die bisher erfolglose Suche unterbrochen werden. Am nächsten Tag fahren wir einen neu zugeteilten Abschnitt so lange ab, bis wir die Suche schweren Herzens aufgeben müssen: Die Wellen sind zu hoch für die Manöver, die das Schiff für die engmaschige Suche fahren muss. Die Chance, noch Überlebende zu finden, geht nun gegen Null. Ein herber Schlag für das Rettungsteam, das die Hoffnung bis zuletzt nicht aufgegeben hatte. Tage später kommt die traurige Gewissheit: Taucher bergen die letzten zwölf Opfer des Unglücks vom Meeresboden.

Julia Schaefermeyer / SOS MEDITERRANEE

Erschwerte Suche bei Dunkelheit und unruhiger See

Die erste Rettung in diesem Oktober geht vier Tage später auf einen Notruf zurück, den die NGO Alarm Phone an die Ocean Viking weiterleitet. Am Nachmittag des 12. Oktober erreicht uns die E-Mail mit Informationen über ein Boot in Seenot mit 74 Menschen an Bord. Es ist rund 40 Seemeilen entfernt. Geschätzte Fahrzeit zur letzten bekannten Position des Bootes drei bis vier Stunden. Auf dem Weg in das Gebiet, in dem wir den Seenotfall vermuten, bricht die Dämmerung herein.

Die kleinen Boote in dem grossen Abschnitt des Mittelmeers zu finden, in dem wir operieren, ist schon bei Tageslicht ausgesprochen schwierig. Wenn die letzte bekannte Position eines Seenotfalls Stunden zurückliegt, beginnen unsere Berechnungen mit den bekannten oder vermuteten Parametern: Wissen wir, ob der Motor noch funktioniert? Wie steht der Wind? Welchen Kurs hat das Boot genommen? Daraus wird eine ungefähre Position des Seenotfalls und im zweiten Schritt ein Kurs für die Ocean Viking berechnet. Die Suche nach einem Boot in Seenot ist jedes Mal eine Herausforderung, die im Dunkeln ungleich grösser ist. Die einzigen Lichtquellen auf den seeuntauglichen Booten, auf denen Menschen von Libyen aus versuchen, das Mittelmeer zu überqueren, sind oftmals die Taschenlampen der Mobiltelefone der Menschen an Bord.

Gemäss unserer Kalkulation sollte sich das Boot in der Nähe der von dem Unternehmen TOTAL betriebenen Ölplattform Al Jurf befinden, gut 50 Seemeilen von der libyschen Küste entfernt. Die Nähe zur Ölplattform birgt mit der Vielzahl an Lichtquellen ein neues Problem: Navigationsbojen, das riesige FPSO-Schiff (eine schwimmende Produktions- und Lagereinheit), die Flammen auf den Bohrinseln, die durch das Verbrennen von überschüssigem Gas entstehen. Die Wellen sind am Abend des 12. Oktober nicht hoch, aber die See ist „kabbelig“, wie man in der Seemannssprache sagt, also stark aufgewühlt. Wir orten Lichter, die nah an der Wasseroberflache auf- und wieder abtauchen – das Boot in Seenot?

Erfolgreiche Rettung trotz Hindernissen

Dann meldet sich der Kapitän des FPSO-Schiffs per Funk: „Good evening, Ocean Viking, I have a visual on a rubber boat in distress. Are you coming to rescue?“* Der Kapitän erteilt der Ocean Viking die Erlaubnis, sich der Bohrinsel auf eine Seemeile zu nähern und von dort die Schnellboote (RHIBs) ins Wasser zu lassen.

Von der geringen Hohe der RHIBs aus ist die Sicht so schlecht, dass wir uns von der Schiffsbrücke aus leiten lassen müssen. Als sich das überfüllte Schlauchboot mit den 74 Insassen von der dunklen See abhebt, erreicht uns ein starker Benzingeruch. Die Befürchtung, dass die Menschen an Bord durch die Mischung aus Benzin und Salzwasser im Innern des Bootes schlimme Hautverbrennungen erlitten haben, wird sich später nicht bestätigen. Es wird jedoch schnell klar, dass sie Benzindampfe eingeatmet haben. Als Folge sind sie desorientiert und scheinen uns nicht zu verstehen, obwohl die Gefluchteten eigentlich Französisch und Englisch sprechen. Wir können kaum erfragen, ob Verletzte oder Bewusstlose an Bord sind. Die Menschen sind verängstigt – wir können nur ahnen, was sie durchgemacht haben, während ihr seeuntaugliches Boot in völliger Dunkelheit inmitten der bedrohlichen Szenerie des Ölfeldes trieb.

Nachdem die Lage trotz der Enge des Bootes soweit unter Kontrolle ist, dass Rettungswesten ausgeteilt werden konnten, verlauft der Transfer der 74 Menschen zur Ocean Viking für die Wetterverhältnisse problemlos. EASY 2, das Schnellboot, auf dem auch ich im Einsatz bin, bleibt bei dem Boot in Seenot. Die Crew behalt das Schlauchboot im Blick und beruhigt die Wartenden, während das grössere Schnellboot, EASY 1, je 25 Menschen in Sicherheit zur Ocean Viking bringt. Eine halbe Stunde vor Mitternacht ist die Rettung abgeschlossen. Die Crew ist erschöpft, aber erleichtert.

Stefan Dold / MSF

Eine weitere Herausforderung: stark überfüllte Schlauchboote

Stefan Dold / MSF

Die nächsten zwei Rettungen dieses Einsatzzyklus finden bei Tageslicht statt. Die grösste Herausforderung ist in beiden Fällen nicht die Suche, sondern der Zustand der Boote in Seenot. Mit jeweils knapp über hundert Menschen bei den Rettungen am 13. und 18. Oktober haben wir es mit deutlich überbelegten Schlauchbooten zu tun – und es sind hochschwangere Frauen, Sauglinge und kleine Kinder an Bord.

Auf derart überbesetzten Booten steigt das Risiko, dass Menschen beim Verteilen der Rettungswesten erdrückt werden oder ersticken. Ausserdem sind die nicht seetauglichen Schlauchboote unberechenbar, Schlauche können plötzlich platzen, die Struktur des Bootes unter dem Gewicht kollabieren. Bei beiden Rettungen nutzt das Rettungsteam zusätzliche aufblasbare Rettungsboote: Nachdem die Frauen und Kinder auf die RHIBs evakuiert worden sind, werden je 15 Manner zunächst on dem überfüllten Schlauchboot auf eines dieser Rettungsboote gebracht, um die Last auf dem Boot in Seenot zu reduzieren und dem Risiko entgegenzuwirken, dass die Schwächsten im Verlauf der Rettung erdrückt oder erstickt werden. Die Strategie geht auf, alle Menschen können schliesslich ohne Zwischenfalle an Bord der Ocean Viking gebracht werden.

Eine Rettung ist nach Seerecht erst abgeschlossen, wenn die Geretteten an einem sicheren Ort sind. Die 176 Menschen der ersten beiden Rettungen konnten binnen 24 Stunden in Taranto, Sizilien, an Land gehen. Von dort aus kehrten wir ins zentrale Mittelmeer zurück, wo am 18. Oktober die dritte oben beschriebene Rettung stattfand. Diesmal mussten die 104 Geretteten zehn lange Tage auf die Zuweisung eines sicheren Hafens warten.

Julia Schaefermeyer / SOS MEDITERRANEE