[BORD-TAGEBUCH] „Das menschliche Leben ist heilig.“
Max ist stellvertretender Rettungskoordinator an Bord der Aquarius. Hier beschreibt er in eindringlichen Worten, warum unsere Arbeit so wichtig und die derzeitige Situation unerträglich ist.
„Im Dunkeln bricht das Schlauchboot auseinander; 50 Menschen schreien um ihr Leben; sie befinden sich im Wasser – ohne Rettungswesten; 70 oder mehr sind in Gefahr; Wellen rollen von allen Seiten heran – das Rettungsschiff ist über eine Meile entfernt; eines unserer eigenen Schlauchboote, das als Rettungsinsel herhalten muss, bremst ab, Menschen klemmen sich gegenseitig auf dem Wrack ein; ich schaffe es treibende Menschen zu greifen; die Rettungswesten gehen zur Neige; ich bemerke einen Mann unter Wasser, meine Finger berühren sein Haar, sein Shirt, dann haben wir ihn, Wiederbelebung; ziehen noch mehr Menschen aus dem Wasser, begraben den Sanitäter fast unter ihnen, werfen Rettungswesten. Unser Boot ist voll. Als das Schlauchboot vollständig auseinanderbricht, nehmen wir die Rettungswesten derer, die schon an Bord sind und werfen sie zur nächstbesten Person. Wir versuchen uns langsam wegzubewegen, doch Menschen halten sich an uns fest. Wir halten die Menschen über Wasser. Das nächste Boot kommt an und wird beinahe überrannt. Zurück zur Aquarius, um den einen Mann, der fast ertrunken wäre, an Bord zu bringen; schnappen uns den Sanitäter; mit mehr Rettungswesten und noch schneller rasen wir durch die Dunkelheit. 5 STUNDEN LANG!
Das war mein Job – vor fünf Tagen.
Als die Sonne aufging hatten wir 629 Menschen an Bord: Menschen, die von anderen Schiffen auf die Aquarius gebracht worden waren und Menschen, die wir in der Nacht selbst gerettet hatten. Mehr als die Hälfte der Menschen wurde von der italienischen Küstenwache gerettet und von uns an Bord genommen.
Dann mussten wir tagelang warten – stillstehen in der Hitze. Die Lebensmittelvorräte wurden knapp, die Menschen wurden ängstlich, besorgt, einer schwört: „Ich springe.“
Und jetzt werden wir nach Spanien gesendet!? Stellt euch das vor, die Menschen, die gerettet wurden, werden auf zwei Boote der Regierung, die genau das gleiche Gebiet wie wir kontrolliert, aufgeteilt. DREI RETTUNGSSCHIFFE! Als wäre es nicht schon bescheuert genug, ein Rettungsschiff wie unseres aus dem tödlichsten Seegebiet der Welt abzuziehen.
Doch damit hört es nicht auf! Am nächsten Tag bringt ein anderes Schiff der italienischen Küstenwache 900 Menschen nach Italien, es ist sogar das Schwesterschiff der beiden Schiffe, die nun im Konvoi mit uns nach Spanien fahren.
Die gesamte Aktion scheint politisch motiviert zu sein.
Und es wird noch schlimmer. Der Küstenabschnitt, den wir befahren, ist stürmisch: letzte Nacht waren die Wellen vier Meter hoch, überfluteten das Deck und die Krankenschwestern mussten Müttern die Kotztüten halten, während sie ihre Kinder stillten.
Diese Menschen sind gerade mit dem Leben davongekommen. Ich wünschte, ihr könntet mit diesem einem Typ reden: er hat einen Angehörigen verloren, einen Schiffbruch überlebt, wurde auf die Aquarius gezerrt, wird tagelang auf diesem Schiff im Ungewissen gelassen, muss sich übergeben, als der Sturm uns erreicht, fragt mich nach einem Stift, um die Crocs, die er von uns bekommen hat, anzumalen, er ist so freundlich und höflich mir gegenüber, fragt mich sogar, wie es mir geht. Und dann fragt er mich, warum das gerade passiert. Ich antworte: Weil es schreckliche Menschen auf der Welt gibt.
Dieses Schiff ist darauf spezialisiert Menschen, die sonst sterben würden, zu retten. Ich will dort sein, wo wir gebraucht werden und nicht auf diesem wahnwitzigen Ego-Trip. Das menschliche Leben ist heilig.“
Photo Credits: Guglielmo Mangiapane / SOS MEDITERRANEE