Logbuch

[Blick auf das zentrale Mittelmeer #10] Jahreswechsel gezeichnet von tragischen Todesfällen und Zwangsrückführungen nach Libyen, sowie Rettung von 265 Personen

[23.12.2020 – 05.01.2021] Auf Grundlage öffentlicher Berichte anderer NGOs, internationaler Organisationen und der internationalen Presse geben wir einen Überblick zu Such- und Rettungseinsätzen in den letzten zwei Wochen im zentralen Mittelmeer. Dieser hat nicht den Anspruch auf Vollständigkeit, verschafft aber einen Eindruck über die Entwicklungen in dem Gebiet, in dem wir seit 2016 als Such- und Rettungsorganisation tätig sind.

265 Menschen werden über Neujahr in weniger als 48 Stunden gerettet

Das Rettungsschiff Open Arms der spanischen NGO Proactiva Open Arms rettete in der Silvesternacht und am 2. Januar in zwei Rettungseinsätzen 265 Menschen. Alle Überlebenden konnten in der Nacht vom 4. auf den 5. Januar in Porto Empedocle, Sizilien, von Bord gehen. Die Erwachsenen wurden auf das Quarantäne-Schiff Rhapsody gebracht, während die Minderjährigen, die alle vor der Ausschiffung mit Schnelltests negativ auf das Coronavirus getestet wurden, mit Patrouillenbooten zum Pier gebracht wurden.

Unter den Überlebenden waren 51 unbegleitete Minderjährige, sechs Babys und eine im neunten Monat schwangere Frau. In der ersten Rettung hatte die Crew der Open Arms 169 Menschen aus einem Holzboot in der libyschen Such- und Rettungszone (SRR) gerettet. Bei der zweiten Rettung wurden 96 Menschen aus einem in Seenot geratenen Holzboot in der maltesischen SRR gerettet. Wie die Times of Malta berichtet, haben die maltesischen Behörden nach Angaben der NGO Alarm Phone, die als erste über die Notsituation des Holzbootes informiert wurde, nicht auf den Notruf reagiert.

Überfahrten übers Mittelmeer, tragische Schiffsunglücke und Zwangsrückführungen halten an

Die tragischen Ereignisse im zentralen Mittelmeer halten auch im neuen Jahr an. So wurden zum Jahreswechsel weitere Schiffsunglücke vor der libyschen Küste sowie Zwangsrückführungen nach Libyen gemeldet.

Am 26. Dezember machte das Netzwerk Alarm Phone auf ein in Seenot geratenes Boot mit etwa 13 Menschen an Bord aufmerksam. Das Schicksal der Menschen an Bord ist weiterhin unbekannt. Am 24. Dezember wurde die Leiche einer verstorbenen Person an die libysche Küste gespült, während bei einem tragischen Schiffsunglück mindestens 20 Menschen ihr Leben verloren, nachdem ein Boot vor Sfax, Tunesien, gekentert war. Laut Il Manifesto „waren unter den 20 Leichen, die von der tunesischen Küstenwache geborgen wurden, 19 Frauen, von denen vier schwanger waren“. Die tunesische Küstenwache rettete mehrere Menschen und suchte nach mindestens 13 als vermisst gemeldeten Personen.

In den ersten fünf Tagen des neuen Jahres meldete das Missing Migrants Project der IOM 15 Todesfälle im zentralen Mittelmeer. Am 3. Januar meldeten Überlebende, die nach Libyen zurückgezwungen wurden, der Internationalen Organisation für Migration (IOM) acht Menschen als vermisst.

Zwischen dem 3. und 4. Januar wurden laut IOM über 160 Menschen, darunter Frauen und Kinder, auf See abgefangen und von der libyschen Küstenwache gewaltsam nach Libyen zurückgebracht. UNHCR berichtete, dass sich unter ihnen mindestens neun Frauen, eine von ihnen schwanger, und elf Kinder befanden.

Im Jahr 2020 starben laut dem Missing Migrants‘ Project der IOM mindestens 779 Menschen im zentralen Mittelmeer – in dieser Minimalschätzung sind all jene, die ohne Zeug*innen ertrunken sind, nicht eingerechnet. Insgesamt 11.891 Menschen wurden laut IOM abgefangen und nach Libyen zurückgezwungen.

Autonome Ankünfte in Italien halten trotz schlechten Wetters an

Trotz rauer See und hohen Wellen wurden in den vergangenen zwei Wochen von italienischen Medien und internationalen Organisationen mehrere autonome Anlandungen auf den Inseln Lampedusa, Sizilien und Pantelleria sowie der Region Crotone gemeldet.

Nach Angaben des italienischen Innenministeriums sind im Jahr 2020 34.134 Menschen an den italienischen Küsten gelandet und damit ist ein Anstieg der Ankünfte auf dem Seeweg um 198 % im Vergleich zu 2019 zu verzeichnen.

Zweite Klage gegen Italien, fünf zivile Rettungsschiffe weiterhin blockiert

Am 5. Januar reichte Sea-Eye eine Klage gegen die Inhaftierung des Rettungsschiffes Alan Kurdi beim italienischen Verwaltungsgericht in Cagliari ein. Laut der deutschen NGO soll „das Gericht nun in einem Eilverfahren über die Rechtmäßigkeit der Inhaftierung entscheiden“. Das Schiff wird seit drei Monaten auf Sardinien festgehalten.

Am 23. Dezember verwies das regionale Verwaltungsgericht von Palermo die von Sea-Watch eingelegten Rechtsmittel gegen die administrativen Festnahmen der Sea-Watch 3 und der Sea-Watch 4 an den Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH). Das regionale Verwaltungsgericht bat den Europäischen Gerichtshof, über die Rechtmäßigkeit der Anwendung der europäischen Richtlinie 2009/16/EG (über Hafenstaatkontrollen) auf alle humanitären Schiffe unter ausländischer Flagge zu entscheiden. Das regionale Verwaltungsgericht hat seine Entscheidung über den Antrag von Sea-Watch, die Festnahmen auszusetzen, auf den 26. Januar verschoben, während es abwartet, ob der Europäische Gerichtshof das beschleunigte Verfahren anwenden wird oder nicht.

Auch in den vergangenen zwei Wochen waren kaum zivile Rettungsschiffe im zentralen Mittelmeer im Einsatz. Fünf Schiffe humanitärer NGOs können aufgrund administrativer Blockaden nicht im Rettungseinsatz sein.

SOS MEDITERRANEE unterstützt die Besatzungen dieser Schiffe in ihrem Bemühen, wieder in See zu stechen, während unsere Teams eine Quarantänezeit durchlaufen und die Rückkehr der Ocean Viking nach ihrer Freilassung am 21. Dezember vorbereiten.

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Photo credits: Anthony Jean / SOS MEDITERRANEE