Logbuch

[Blick auf das zentrale Mittelmeer #11] Während die meisten zivilen Rettungsschiffe weiterhin festgesetzt sind, sind seit Anfang des Jahres mindestens 19 Personen auf See gestorben

[6.01 – 19.01] Auf Grundlage öffentlicher Berichte anderer NGOs, internationaler Organisationen und der internationalen Presse geben wir einen Überblick zu Such- und Rettungseinsätzen in den letzten zwei Wochen im zentralen Mittelmeer. Dieser hat nicht den Anspruch auf Vollständigkeit, verschafft aber einen Eindruck über die Entwicklungen in dem Gebiet, in dem wir seit 2016 als Such- und Rettungsorganisation tätig sind.

Tödliches Schiffsunglück fordert Leben eines Neugeborenen, während kein ziviles Rettungsschiffe im zentralen Mittelmeer im Einsatz ist

In den letzten zwei Wochen (bis zum 18. Januar) befanden sich keine zivile Rettungsschiffe im zentralen Mittelmeer. Seit Monaten können fünf Schiffe humanitärer NGOs aufgrund administrativer Blockaden nicht in den Einsatz fahren.

Die Ocean Viking verliess am 11. Januar den Hafen von Marseille, Frankreich, um nach fünf Monaten Festsetzung und Wochen der Vorbereitung wieder ins zentrale Mittelmeer zurückzukehren. Die SOS MEDITERRANEE-Teams und die technisch-nautische Besatzung an Bord des Schiffes unterzogen sich einer zehntägigen Selbstisolierung und wurden mehrfach negativ auf COVID-19 getestet, bevor sie an Bord gingen.

Die Quarantäne der Besatzung des Rettungsschiffes Open Arms endete am 18. Januar. Diese blieb nach einem Rettungseinsatz über Neujahr, bei dem 265 Menschen gerettet wurden, 14 Tage in Selbstisolation. Bevor die Organisation zum nächsten Einsatz aufbricht, hat sie Kurs auf Barcelona genommen, um die Besatzung zu wechseln und Vorräte aufzufüllen.

Am 11. Januar wurden rund 44 Menschen, mehrheitlich aus Ländern südlich der Sahara, von der tunesischen Marine vor der Küste Tunesiens geborgen. Als sie aufgefunden wurden, trieben sie „in der Nähe ihres Bootes, das bereits zerfallen war“, erklärte Infomigrants. Unter den Überlebenden, die fünf Tage auf See verbracht hatten, befanden sich elf Frauen. Ein neugeborenes Baby konnte nur noch tot geborgen werden.

Laut dem Missing Migrants Project der Internationalen Organisation für Migration (IOM) sind seit Anfang des Jahres mindestens 19 Menschen im zentralen Mittelmeer gestorben. Zugleich erreichten gemäss dem italienischen Innenministerium 340 Menschen selbstständig die italienische Küste.

Vorläufige Anhörung im Fall Open Arms

Am 9. Januar war Matteo Salvini bei einer vorläufigen Anhörung vor einem Richter in Palermo zugegen. Der ehemalige italienische Innenminister sieht sich mit Anklagen wegen Beschlagnahme und Machtmissbrauchs konfrontiert, nachdem er sich 2019 geweigert hatte, das Rettungsschiff Open Arms mit 147 Überlebenden an Bord in einem italienischen Hafen anlegen zu lassen. An der auf den 20. März verschobenen Verhandlung werden sieben der geretteten Menschen, die sich an Bord des Schiffes befanden, teilnehmen. Alle von den Klägern gestellten Anträge wurden vom Vorverhandlungsrichter (GUP) zugelassen.

Am 12. Januar rief der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR) Portugal und Slowenien dazu auf, „ihre Präsidentschaften der Europäischen Union (EU) im Jahr 2021 und die Verhandlungen über den EU-Pakt für Migration und Asyl zu nutzen, (…) um Geflüchtete in Europa und darüber hinaus besser zu schützen.“ In Bezug auf Such- und Rettungseinsätze begrüsste UNHCR die Empfehlungen der EU-Ratspräsidentschaft 2021, die „wichtige Verpflichtung [des Migrations-Pakts], die Such- und Rettungskapazitäten zu verbessern und eine vorhersehbare Ausschiffung zu gewährleisten. Der UNHCR erhofft sich eine “schnelle Anwendung“ dieser Verpflichtung (UNHCR-Pressemitteilung).

Fast 1.000 Menschen sind im Jahr 2020 im zentralen Mittelmeer umgekommen

Rund 36.400 Menschen sollen laut New Humanitarian im Jahr 2020 das zentrale Mittelmeer von Nordafrika nach Europa überquert haben. Die von den Vereinten Nationen gegründete unabhängige Non-Profit-Nachrichtenorganisation veröffentlichte kürzlich einen investigativen Artikel über die Tragödie, die sich auf der tödlichsten maritimen Migrationsroute zwischen 2013 und 2020 abgespielt hat.

Am 14. Januar veröffentlichte das Netzwerk Alarm Phone einen Bericht, der die Situation im zentralen Mittelmeer in den vergangenen sechs Monaten, von Juli bis Dezember 2020, beleuchtet. Die Organisation schätzt, dass im Jahr 2020 27.435 Menschen versucht haben aus Libyen zu fliehen. Fast 3.700 Menschen wurden von zivilen Seenotrettungsschiffen gerettet und konnten in Italien an Land gehen, 2.281 Menschen kamen laut Alarm Phone auf Malta an. Die Internationale Organisation für Migration (IOM) berichtete, dass im Jahr 2020 11.891 Menschen von der libyschen Küstenwache abgefangen und gewaltsam nach Libyen zurückgebracht wurden.

Das Missing Migrants Project der IOM hat kürzlich die Zahl der bestätigten Todes- und Vermisstenfälle für die zentrale Mittelmeerroute im Jahr 2020 auf 977 Tote und / oder Vermisste aktualisiert. Diese Zahlen bleiben eine konservative Schätzung, da sie all jene nicht mitzählen, die in sogenannten „invisible shipwrecks“ (unbezeugten Schiffsunglücken) umgekommen sind.

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Photo credits: Fabian Mondl / SOS MEDITERRANEE