[Blick auf das zentrale Mittelmeer #12] Fast 450 Menschen können gerettet werden, während zwei Schiffsunglücke 60 Tote fordern
[20.01.21 – 02.02.21] Auf Grundlage öffentlicher Berichte anderer NGOs, internationaler Organisationen und der internationalen Presse geben wir einen Überblick zu Such- und Rettungseinsätzen in den letzten zwei Wochen im zentralen Mittelmeer. Dieser hat nicht den Anspruch auf Vollständigkeit, verschafft aber einen Eindruck über die Entwicklungen in dem Gebiet, in dem wir seit 2016 als Such- und Rettungsorganisation tätig sind.
Ocean Viking führt drei Rettungseinsätze durch, Handelsschiff rettet weitere Menschen
Das italienische Offshore-Versorgungsschiff Asso Trenta rettete in der Nähe einer Offshore-Ölstation vor der libyschen Küste, wo das Schiff im Einsatz war, 75 Menschen aus einem in Seenot geratenen Boot. Am 25. Januar konnten die Überlebenden in Lampedusa an Land gehen, wie Mediterraneo Cronaca berichtete.
Zwischen dem 25. und 26. Januar konnten die 373 Geretteten an Bord der Ocean Viking in Augusta, Sizilien, an Land gehen. Dies, nachdem alle Geretteten sowie die Besatzung durch die italienischen Behörden negativ auf das Coronavirus getestet worden waren.
Die Ocean Viking war in den letzten zwei Wochen das einzige zivile Rettungsschiff, das im zentralen Mittelmeer im Einsatz war. Während des ersten Einsatzes nach fünf Monaten rettete die Crew von SOS MEDITERRANEE zwischen dem 21. und 22. Januar in weniger als 48 Stunden 374 Menschen aus vier in Seenot geratenen Booten.
Die drei Rettungseinsätze wurden sowohl bei Tageslicht als auch bei Nacht durchgeführt. Bei der letzten Rettung gingen mehrere Menschen über Bord, bevor sie von der Rettungscrew geborgen werden konnten. Unter den Geretteten waren 165 Minderjährige und 48 Frauen, vier davon schwanger. Eine schwangere Frau musste am 23. Januar aufgrund ihrer Risikoschwangerschaft, die eine dringende medizinische Versorgung an Land erforderte, notevakuiert werden.
Zwei tödliche Schiffsunglücke, 452 Menschen werden nach Libyen zurückgezwungen
Während die Teams auf der Ocean Viking in intensive Such- und Rettungseinsätze involviert waren, wurden Schiffsunglücke sowie Rückführungen durch die libysche Küstenwache gemeldet. Am 19. Januar sollen 43 Menschen bei einem Schiffbruch vor der libyschen Küste ums Leben gekommen sein, nachdem sie am Morgen dieses Tages von Zawiya aus in See gestochen waren. Zehn Überlebende des Schiffsunglücks, die von der libyschen Küstenwache nach Libyen zurückgezwungen wurden, berichteten den Mitarbeiter*innen der Internationalen Organisation für Migration (IOM) und des International Rescue Commitees (IRC), die am Ausschiffungsort anwesend waren, von den Ereignissen. „Das Boot (…) kenterte Berichten zufolge nur wenige Stunden später, als der Motor aufgrund schwieriger Verhältnisse auf See ausfiel“, so IRC, Partner des UNHCRs vor Ort, und die IOM.
In ihrer gemeinsamen Erklärung bekräftigten IOM und UNHCR erneut ihren Aufruf zur Wiederaufnahme eines europäischen Such- und Rettungsprogramms im Mittelmeer sowie die Notwendigkeit europäischer Solidarität gegenüber den Küstenstaaten:
„Dieser Verlust von Menschenleben unterstreicht einmal mehr die Notwendigkeit der Wiederaufnahme von Such- und Rettungseinsätzen unter staatlicher Leitung; eine Lücke, die NGOs und kommerzielle Schiffe trotz ihrer begrenzten Ressourcen zu füllen versuchen“, sagten UNHCR und IOM und forderten „eine dringende und messbare Veränderung der Herangehensweise an die Situation im Mittelmeer“, einschliesslich „der Beendigung von Rückführungen in unsichere Häfen, der Einrichtung eines sicheren und vorhersehbaren Ausschiffungsmechanismus, gefolgt von einer greifbaren Solidaritätsbekundung der europäischen Staaten mit Ländern, die mit einer hohen Anzahl von Ankünften konfrontiert sind.“
Basierend auf gesammelten Zeugenaussagen Überlebender berichtet die IOM, dass bei einem Schiffsunglück am 21. Januar 17 Menschen ums Leben kamen, während 82 Menschen von der libyschen Küstenwache gewaltsam in das Bürgerkriegsland zurückgebracht wurden.
Zwischen dem 19. und 25. Januar wurden nach Angaben der IOM insgesamt 452 Menschen von der libyschen Küstenwache aufgegriffen und nach Libyen zurückgezwungen. Die Crews der Aufklärungsflugzeuge Colibri (Pilotes Volontaires) und Moonbird (Sea-Watch) wurden am 20. Januar Zeugen, wie Menschen im zentralen Mittelmeer von der libyschen Küstenwache abgefangen wurden. Die Besatzungen der Moonbird bezeugten zwei weitere Fälle am 21. und 22. Januar.
Zwischen dem 26. Januar und dem 1. Februar wurden laut IOM acht Leichen an der libyschen Küste angespült. Seit Anfang des Jahres sind laut dem IOM Missing Migrants Project 87 Menschen im zentralen Mittelmeer gestorben oder gelten als vermisst.
Zugleich ist die Zahl autonomer Ankünfte in Italien seit Winterbeginn deutlich zurückgegangen sind. Zwischen dem 26. und 31. Januar kamen nach Angaben des UNHCR 167 Personen auf dem Seeweg in Italien an: u.a. 84 Menschen – darunter 37 Frauen und 18 Minderjährige – die laut Mediterraneo Cronaca aus Sfax, Tunesien, abgelegt hatten.
Update zu aktuellen Gerichtsverfahren im Bereich zivile Seenotrettung
In einer am 27. Januar veröffentlichten Entscheidung stellte der UN-Menschenrechtsausschuss (OHCHR) das Versäumnis Italiens fest, das Recht auf Leben von mehr als 200 Menschen zu schützen. Diese befanden sich an Bord eines Schiffes, das 2013 im Mittelmeer sank. „Italien hatte es versäumt, umgehend auf mehrfache Notrufe des sinkenden Bootes zu reagieren (…). Der Vertragsstaat konnte auch teilweise nicht erklären, wie es zur Verzögerung bei der Entsendung seines Marineschiffs ITS Libra kam, das sich nur etwa eine Stunde vom Ort des Geschehens entfernt befand“, so OHCHR in einer Pressemitteilung.
Die Anhörung über den Antrag von Sea-Watch auf eine einstweilige Verfügung zur Freilassung ihrer Schiffe wurde auf den 23. Februar verschoben, „in Erwartung der Entscheidung des EU-Gerichtshofs“, so Sea-Watch. Ende Dezember 2020 hatte das regionale Verwaltungsgericht von Palermo die Verweisung der von Sea-Watch eingereichten Beschwerden gegen die Verwaltungshaft an den Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) angeordnet. Seit September 2020 werden die Schiffe der Organisation – Sea-Watch 3 und Sea-Watch 4 – aus administrativen Gründen festgehalten.
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Fotonachweis: Fabian Mondl / SOS MEDITERRANEE