Logbuch

[Blick auf das zentrale Mittelmeer #9] Hoffnung auf mehr Such- und Rettungskapazitäten in 2021 wächst während weiterhin Menschen im Mittelmeer sterben

[10.12. – 23.12] Auf Grundlage öffentlicher Berichte anderer NGOs, internationaler Organisationen und der internationalen Presse geben wir einen Überblick zu Such- und Rettungseinsätzen in den letzten zwei Wochen im zentralen Mittelmeer. Dieser hat nicht den Anspruch auf Vollständigkeit, verschafft aber einen Eindruck über die Entwicklungen in dem Gebiet, in dem wir seit 2016 als Such- und Rettungsorganisation tätig sind.

Trotz Wintereinbruch flüchten Menschen weiterhin aus Libyen: Berichte über mindestens ein Schiffsunglück und über 120 Menschen, die gewaltsam nach Libyen zurückgezwungen wurden

Am 16. Dezember wurden nach einem Schiffsunglück mit ungefähr 30 Menschen an Bord die Leichen von vier Kindern im Alter zwischen fünf und zehn Jahren an der Westküste Libyens angespült, wie der Libysche Rote Halbmond berichtet. Die Internationale Organisation für Migration (IOM) spricht in ihrem letzten maritimen Update von sechs Leichen, die am selben Tag geborgen wurden. Am 17. Dezember wurden über 120 Menschen, darunter 8 Frauen und 28 Kinder, von der libyschen Küstenwache abgefangen und gewaltsam nach Libyen zurückgebracht. Zwischen dem 15. und 16. Dezember erreichten über 310 Menschen, die aus Libyen und Tunesien kamen, mit vier Booten eigenständig die Insel Lampedusa, darunter viele Frauen und Minderjährige. Dabei handelte es sich um die ersten autonomen Anlandungen seit fünfzehn Tagen, was laut Agrigento Notizie auf die schlechten Wetterbedingungen zurückzuführen ist.

Nach Angaben der italienischen Zeitung Il Manifesto (nur für Abonnenten) starb ein weiterer Minderjähriger in einem Krankenhaus, nachdem sich sein Gesundheitszustand an Bord eines italienischen Quarantäneschiffes verschlechtert hatte. Abdallah Said, ein 17-jähriger somalischer Junge, starb am 14. September in Catania nachdem er von der GNV Azzurra ins Krankenhaus gebracht wurde. 22 Tage zuvor verstarb Abou Diakite. Die Staatsanwaltschaft von Syrakus hat eine Untersuchung eingeleitet.

Laut dem letzten Monatsbericht der IOM-Libyen, welcher am 11. Dezember veröffentlicht wurde, war November der tödlichste Monat im zentralen Mittelmeer. Mindestens 84 Leichen wurden an Land gespült und 77 Menschen werden nach einer Reihe von tödlichen Schiffsunglücken weiterhin vermisst. Im November wurde zudem die höchste Anzahl von illegalen Push-Backs nach Libyen aufgezeichnet: 1.742 Menschen wurden auf See abgefangen und gewaltsam nach Libyen zurückgebracht.

Ocean Viking wieder frei, fünf zivile Rettungsschiffe noch immer blockiert

Am 21. Dezember 2020 führte die italienische Küstenwache die dritte Inspektion innerhalb von fünf Monaten auf der Ocean Viking durch. Das Ergebnis: Die Festsetzung des Rettungsschiffes wird aufgehoben. Nach monatelangen Gesprächen mit den relevanten Beteiligten sowie kostspieligen Anstrengungen, um den zusätzlichen Sicherheitsanforderungen der italienischen Behörden gerecht zu werden, ist SOS MEDITERRANEE erleichtert, anfangs 2021 zurück in See stechen, um ihre Such- und Rettungseinsätze wieder im Mittelmeer wieder aufzunehmen.

Auch während der vergangenen zwei Wochen waren keine zivilen Rettungsschiffe im zentralen Mittelmeer unterwegs. Fünf Schiffe von zivilen Seenotrettungsorganisationen können aufgrund von Festsetzungen durch Behörden weiterhin nicht im Einsatz sein. SOS MEDITERRANEE versichert den Besatzungen die volle Unterstützung bei ihren Bemühungen wieder in See zu stechen.

Am 12. Dezember hat das Team von Pilotes Volontaires die Flugüberwachung der libyschen Such- und Rettungsregion mit einem neuen Flugzeug, der Colibri 2, wieder aufgenommen. Ein Jahr lang konnte die französische NGO mit ihrem ersten Flugzeug Colibri wegen administrativer Blockaden nicht fliegen. Zu wissen, dass Pilotes Volontaires wieder im Einsatz sind, ist eine grosse Erleichterung. Denn die Anwesenheit ziviler Flugzeuge, die Ausschau nach Booten in Seenot halten, ist von grösster Bedeutung für die Rettung von Menschenleben im zentralen Mittelmeer.

Über 1.000 Todesfälle im Mittelmeer in diesem Jahr verzeichnet (IOM)

Das „Missing Migrants Project“ der IOM hat im Jahr 2020 bereits über 3.000 Todesfälle auf verschiedenen Migrationsrouten weltweit verzeichnet. „Obwohl die Anzahl der Menschen, von denen bekannt ist, dass sie im Jahr 2020 ihr Leben verloren haben, geringer ist als in den Vorjahren, gab es auf einigen Routen einen Anstieg der Todesfälle“, erklärt die Organisation. Insbesondere starben zwischen dem 1. Januar und dem 17. Dezember mindestens 593 Menschen auf dem Weg zu den spanischen Kanarischen Inseln, verglichen mit 210 Menschen im Jahr 2019. Über 1.000 Todesfälle wurden im gleichen Zeitraum im Mittelmeer gemeldet, darunter 739 allein im zentralen Mittelmeer. Damit bleibt das zentrale Mittelmeer die tödlichste maritime Fluchtroute der Welt.

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Fotocredits: Kenny Karpov / SOS MEDITERRANEE