Logbuch

[BORD-TAGEBUCH] „Wir helfen beim Überleben, ganz einfach“

In ihrem Tagebuch berichtet Christine – Krankenschwester aus Berlin und Leiterin des medizinischen Teams auf der Ocean Viking – ihre Erlebnisse an Bord der Ocean Viking.

Während im ersten Eintrag vor allem ihre Motivation deutlich wird, als Krankenschwester an Bord eines Seenotrettungsschiffes zu gehen, fasst der zweite Eintrag die darauffolgenden Ereignisse zusammen. Zwischen dem ersten und bisher letzten Beitrag liegen drei Rettungseinsätze, bei denen insgesamt 374 Menschen geborgen und sicher an Bord der Ocean Viking gebracht werden konnten. In ihrem dritten Eintrag spricht Christine über den zweiten Einsatzzyklus.

12. Februar 2021

Während meiner Zeit auf der Ocean Viking haben wir insgesamt 796 Menschen aus Seenot im Mittelmeer gerettet. Es ist ein seltsames Gefühl, jetzt in Quarantäne zu sein, während die Überlebenden in Italien verteilt wurden – manche sind noch in Quarantäne auf einer Fähre direkt neben uns, manche sind in einer Flüchtlingsunterkunft zwei Stunden entfernt von hier, und von vielen wissen wir leider nicht, wo sie hingebracht wurden.

Nochmal zurück zum zweiten Einsatzzyklus – am 2. Februar sind wir erneut Richtung libysche Such- und Rettungsregion aufgebrochen. Innerhalb von zwei Tagen haben wir insgesamt 423 Menschen aus Seenot gerettet, während hunderte Andere von der libyschen Küstenwache abgefangen und zurückgeschleppt wurden.

Wenn ich höre, was die Männer und Frauen an Bord der Ocean Viking uns von ihrer Zeit in Libyen erzählen, ist es ein furchtbarer Gedanke für mich, dass so viele andere dieses Leid weiter ertragen müssen. Genauso schlimm finde ich, dass dies mit dem Wissen und der Unterstützung von Europa geschieht. Ich schäme mich, dass „meine“ Regierung dazu beiträgt. Ich kann es nicht verstehen.  Aber trotzdem glaube ich, dass es wichtig ist, nicht zu verbittern, als Helfer/in. Wir müssen weiter für Andere da sein. Aufgeben ist keine Option.

Ich erinnere mich gut an diesen zweiten Einsatzzyklus. Die grundlegenden Bedürfnisse wie Lebensmittel, Trinken und Schlafplätze zu erfüllen war ein Kraftakt für das ganze Team an Bord. Aber die Überlebenden waren geduldig und verständnisvoll.

Für uns im medizinischen Team war es eine besondere Zeit. Zum Glück war der Gesundheitszustand der meisten stabil, sodass wir uns auf einen kritischen Notfall konzentrieren konnten. Joyce*, schwanger, war in einem schlechten Allgemeinzustand und hätte sofort ein Bett auf einer Intensivstation gebraucht. Wir waren noch in der libyschen Seenotrettungszone, von hier sind medizinische Evakuierungen nicht ohne weiteres möglich.

Auf der Suche nach einem sicheren Hafen segeln wir nachmittags Richtung Malta. Unserer Hebamme und Ärztin gelingt es, Joyce über Nacht einigermassen zu stabilisieren, beide bleiben rund um die Uhr an ihrer Seite. Der Vater des Kindes übernachtet bei ihr auf dem Boden in unserer Klinik. Am nächsten Morgen werden beide mit einem Hubschrauber des maltesischen Militärs evakuiert. Welch eine Erleichterung. Einige Tage später hören wir, dass Joyce wohlauf ist. Unsere Gedanken werden sie begleiten.

Gleichzeitig machen wir uns grosse Sorgen um einen jungen Mann aus dem Sudan, der in Libyen geschlagen wurde. Er wurde so brutal verletzt, dass er eine ernsthafte Wunde am Kopf davongetragen hat, die stark infiziert ist. Eine Hälfte seines Gesichts ist geschwollen. Wir können ihm ein Antibiotikum geben, die Wunde zweimal täglich verbinden, die Schmerzen lindern. Er ist sehr gestresst und kann nicht essen. Auch für ihn sind wir froh, dass wir nicht zu lange auf einen sicheren Hafen warten müssen.

Die Pandemie hat auch uns auf der Ocean Viking erreicht. Wir haben Schnelltests an Bord und haben COVID-19 bei mehreren Geretteten festgestellt. Daraufhin testen wir zuerst die direkten Kontakte der kleinen Gruppe, dann die symptomatischen Fälle. Wir können die positiven Fälle isolieren. Am 8. Februar, dem Tag der Anladung, werden alle Geretteten, die Schiffscrew und wir, das Team an Bord, vom italienischen Gesundheitsministerium getestet. Das Testen dauert einen ganzen Tag. Währenddessen können die ersten Geretteten von Bord gehen, die Minderjährigen, Kranken und Schwangere zuerst.

Als am 9. Februar alle Menschen von Bord gegangen sind, sind wir erleichtert. Und erschöpft. Ein grosser Teil der Crew wird ausgetauscht. Ich werde beim nächsten Einsatz nicht dabei sein, sondern nach Ende der Quarantäne nach Berlin zurück reisen. Nach Hause. Wenn doch alle Menschen auf der Flucht auch ein Zuhause finden würden.

30. Januar 2021

Ready for rescue, ready for rescue

Immer wenn von der Brücke der Ocean Viking ein Boot in Seenot gesichtet wird, erschallt diese Nachricht in unserem Walkie-Talkie: “All teams, all teams: ready for rescue, ready for rescue.” Jetzt heißt es schnell sein, vor allem für das Seenotrettungsteam, denn jede Minute zählt. Auch wir vom medizinischen Team müssen sofort alles vorbereiten, um Menschen in Empfang zu nehmen, und vor allem um gegebenenfalls Menschen wiederzubeleben, die fast ertrunken sind.

Aber gehen wir nochmal ein paar Tage zurück, zu der Zeit zwischen dem 20. und 29. Januar.

Am 20. Januar erreicht uns ein Notruf, ein Boot ist in Seenot, aber bevor wir es erreichen, wird es von der libyschen Küstenwache abgefangen. Wie bitter! Sie werden in das Land zurückgebracht, aus dem sie vor Folter, Gefangenschaft und Gewalt geflohen sind.

Nur einen Tag später, am 21. Januar, werden wir morgens von der Nichtregierungsorganisation „Alarm Phone“ informiert, dass nur ungefähr zehn Seemeilen von uns ein Boot in Seenot ist. Mit ca. 120 Menschen an Bord. Gegen Mittag sind alle 119 Überlebenden an Bord der Ocean Viking, zum Glück niemand davon in kritischem Gesundheitszustand. Unter den Überlebenden ist ein kleines Mädchen, das erst am 17. Dezember zur Welt gekommen ist. Sie ist guter Dinge, trotz der schwierigen Umstände.

Luisa, unsere italienische Such- und Rettungskoordinatorin, erbittet einen sicheren Hafen. Aber uns erreichen noch weitere Notrufe – am nächsten Tag, genau um 05.07 Uhr morgens, werden wir geweckt. An einem Tag finden wir insgesamt drei Boote in Seenot, eines wird direkt von der Brücke der Ocean Viking aus gesichtet. Auf dem letzten Boot gehen mehrere Menschen während der Rettung über Bord, viele riechen nach Benzin als sie auf unser Schiff kommen. Ihre mit Benzin durchtränkte Kleidung kann Verbrennungen hervorrufen, wenn sich der Treibstoff mit Salzwasser vermischt. Viele haben auch Benzin eingeatmet, was die Menschen verwirrt und dadurch ängstlich macht.

374 Menschenleben retten wir an diesen zwei Tagen – jede und jeder einzelne davon kommt mit einer eigenen Geschichte, mit Nöten, Sorgen und auch Träumen. Wir erleben so viel Dankbarkeit und Erleichterung. Daneben aber auch unsagbare Erschöpfung und Schmerz. Diesmal waren sehr viele Frauen, Kinder und unbegleitete Jugendliche unter den Überlebenden.

Mehrere Frauen berichten uns von sexueller Gewalt, die ihnen in Libyen widerfahren ist. Welch ein Schmerz und ein Trauma! Ich wüsste nicht, wie ich mit solch einer seelischen Verletzung weiterleben könnte. Und doch gelingt es ihnen. Vielleicht weil sie für ihre Kinder weiterleben wollen. Oder sich von den Ereignissen nicht unterkriegen lassen wollen.

Vier Schwangere sind an Bord, von denen eine Frau, Nadine, beim Einsetzen der Wehen gefährdet sein würde. Ich bin froh, dass Hannah, eine sehr erfahrene Hebamme aus Australien, im Team ist. Gemeinsam entscheiden wir, Nadine zu evakuieren, eine vorsorgliche und trotzdem dringende Maßnahme, da die Wehen jederzeit beginnen können. Drei Stunden nachdem ich meinen Antrag auf eine medizinische Evakuierung an die Behörden geschickt habe, wird sie von der italienischen Küstenwache abgeholt und nach Lampedusa gebracht. Das war schnell! Leider hat sie kein Telefon, sodass wir nicht erfahren werden, wie es weitergegangen ist. Aber die Telefonnummer ihres Ehemannes kann sie auswendig, sodass sie ihn in Libyen informieren kann. Hoffentlich ist früher oder später eine Familienzusammenführung möglich.

In den zum Glück wenigen Tagen, an denen die Geretteten an Bord sind, versuchen wir einen Alltag für die Menschen zu organisieren. Manche müssen draußen, außerhalb der Container, der sogenannten “Shelter” schlafen. Das ist hart, aber es gibt keine Spannungen zwischen den Geretteten deswegen. Unser Ziel ist, dass alle die gleiche Versorgung bekommen, aber wenn viele Überlebende an Bord sind, muss es Kompromisse geben. Die Kinder sind guter Dinge und spielen an Deck.

In unserem sehr kleinen Krankenhaus gibt es viel zu tun, aber es bleibt genug Zeit für die ernsten Fälle. Ein 5-jähriger Junge macht uns Sorgen, da wir sein Erbrechen erst nicht kontrollieren können. Sehr viele der Geretteten werden seekrank, als sich das Wetter verschlechtert, viele haben Schmerzen an verschiedenen Bereichen des Körpers, sicher auch psychosomatisch bedingt. Ein Jugendlicher hat eine Beinverletzung als Folge seiner Flucht aus dem Gefängnis. Ein junger Mann hat eine extrem infizierte Schusswunde, die sicher lange brauchen wird, um abzuheilen.

Am 24. Januar – einem besonderen Sonntag – erreicht uns die gute Nachricht: ein sicherer Hafen in Italien! Wir atmen auf. Auch weil das Wetter sehr schlecht ist und das Deck immer wieder von Wellen überflutet wird, auch dort, wo Menschen schlafen. Als wir die Nachricht mit den Überlebenden teilen, ist die Freude groß. Alle jubeln, singen, tanzen. Endlich geschafft.

Bis alle angelandet sind, dauert es dann aber doch noch: am Montag kommt erst am Nachmittag ein Team des Roten Kreuz und der Gesundheitsbehörden an Bord. Alle Überlebenden und auch wir, die Crew, werden auf Corona getestet. Und wieder aufatmen – alle sind negativ! Allerdings können an diesem Tag nur 111 Menschen das Schiff verlassen. Die erwachsenen Geretteten werden auf eine naheliegende Fähre gebracht, um dort eine mindestens 10-tägige Quarantäne zu verbringen. Für uns alle ist es seltsam, nicht zu wissen, was mit ihnen geschehen wird. Aber zumindest konnten wir in einem sehr schwierigen Moment ihres Lebens für sie da sein.

Als ich vor zwei Wochen meinen ersten Beitrag geschrieben habe, war mein Plan, direkt wieder zu schreiben, wenn Überlebende an Bord sind. Was eine Illusion! Es war einfach nicht möglich, das ganze Team hatte jeden Tag von morgens bis abends alle Hände voll zu tun.

Jetzt liegen wir im Hafen von Augusta in Italien. Wir hatten einen Tag frei, der auch bitter nötig war, und nutzen jetzt die Zeit, um das Schiff auf den nächsten Einsatz vorzubereiten.

17. Januar 2021

Heute ist mein Geburtstag. Was ein Geschenk, auf der Ocean Viking sein zu dürfen! Auf dem Weg in Richtung libysche Seenotrettungszone. Im Moment sind wir das einzige Schiff, das im Mittelmeer im Einsatz ist. Aber zurück an den Anfang der Geschichte.

Nach vielen Jahren in der humanitären Hilfe, vor allem mit Ärzte ohne Grenzen, brauchte ich 2007 eine sehr lange Pause. Ich hatte keine Energie mehr und habe mich erst mal auf mein Leben in Berlin konzentriert.

In diesen Jahren war es mir wichtig, mir ein Zuhause in dieser tollen Stadt zu schaffen, meine Kenntnisse in der palliativen Versorgung von Tumorpatient*innen auszubauen und als Freiwillige in der Flüchtlingskirche bei der Integration von Geflüchteten zu unterstützen.

Ich fing an, mich mit dem Buddhismus zu beschäftigen, einer Philosophie, die mir persönlich viele Antworten bringt. Mir liegt die Tradition des vietnamesischen Mönch Thich Nhat Hanh am meisten. Angesichts der Endlichkeit des Lebens erscheinen viele Alltagssorgen unwichtig.

In den letzten Jahren wurde mir bewusst, dass ich es noch mal wagen möchte, im globalen Süden zu arbeiten. Das Fernweh war groß, der Wunsch, aktives Mitgefühl zu leben, wuchs. Mein Leben in Berlin fühlte sich für mich zu privilegiert an. Ich fragte mich, ob es möglich wäre, die palliative Arbeit, die ich auch sehr schätze, mit humanitären Missionen zu kombinieren, also zwischen den Auslandseinsätzen immer mal ein paar Monate in Berlin sein.

Seit genau einem Jahr wollte ich auf einem Rettungsschiff in den Einsatz gehen. In der Zwischenzeit, im letzten August, bin ich dann nach Griechenland gereist, um dort mit einer kleinen medizinischen Hilfsorganisation in dem Lager Moria zu arbeiten. Es war eine besondere Zeit, auch weil ich während des großen Brands dort war.

Dann hörte ich von der Situation in Bosnien, in Velika Kladusa, und reiste dorthin, um zu helfen. Menschen, die auf der Balkanroute stranden, versuchen immer wieder, die kroatische Grenze zu passieren und begegnen brutaler Gewalt, haben keinen Zugang zum Asylsystem und werden immer wieder zurückgejagt. Trotz vieler Widrigkeiten schaffte ich es, mit MVI (Medical Volunteers International) ein medizinisches Projekt auf die Beine zu stellen.

Wie bitter, dass Europa sich immer mehr abschottet, brutale Methoden anwendet, um Geflüchtete, Asylsuchende und Migrant*innen abzuwehren und sogar bereit ist, dafür Menschenrechte zu ignorieren. 2012 hat die Europäische Union den Friedensnobelpreis bekommen. Welchen Wert hat so ein Preis in solchen Zeiten noch?

Und jetzt ein Einsatz auf der Ocean Viking. Endlich. Nach langen Monaten des unfreiwilligen Stillstands konnten wir den zehnten Einsatz auf diesem Schiff beginnen. Wir haben uns schon bevor wir an Bord gegangen sind an strenge Richtlinien gehalten, um sicher zu sein, dass wir mit einem „coronafreien“ Team lossegeln und der Einsatz nicht gefährdet ist.

Die Zeit der Quarantäne haben wir intensiv genutzt: Aus der Isolation in unseren Hotelzimmern heraus haben wir Trainings abgehalten, mit Präsentationen unser Wissen erweitert und aufgefrischt und praktische Übungen gemacht.

Das 31-köpfige Team besteht aus der Schiffscrew, dem Such- und Rettungsteam, dem Care Team, das die Versorgung der Geretteten an Bord koordiniert, und uns, dem medizinischen Team.

Wir sind zwar ein kleines medizinisches Team, aber wir sind vier starke Frauen. Hannah, die Hebamme, war glücklicherweise auch beim letzten Einsatz der Ocean Viking im Sommer dabei und kennt sich schon gut auf dem Schiff aus. Ophélie ist eine Krankenschwester aus Belgien mit viel Erfahrung in der Intensivversorgung. Caterina, die italienische Ärztin, die in Berlin wohnt, konnte bereits Erfahrung auf einem anderen Schiff sammeln. Ich vervollständige das Team und auch ich bin Krankenschwester, hier jedoch als „Medical Team Leader“ für die Koordination des medizinischen Teams und der medizinischen Versorgung verantwortlich.

Wenn ich das nächste Mal schreibe, haben wir vielleicht schon Überlebende an Bord. Während ich jetzt tippe, halten wir uns für mögliche Rettungen in der libyschen Rettungszone bereit.

Immer wieder versuche ich mir auszumalen, wie sich die Menschen fühlen müssen, auf nicht seetauglichen Booten, zusammengepfercht, sowieso schon traumatisiert von allem, was ihnen im Heimatland, auf der Flucht und inmitten der Instabilität Libyens geschehen ist. Und jetzt wieder auf der Flucht. Das Mittelmeer ein Massengrab von Menschen, die bei dem Versuchen zu fliehen ertrunken sind. Niemand verlässt freiwillig die Heimat.

Wir helfen beim Überleben, ganz einfach, und berichten über das, was wir bezeugen.

Ich bin dankbar, dass ich hier sein darf, dass ich die Möglichkeit habe, in dieser furchtbaren Situation helfen zu können. Ich bin immer zuversichtlich, dass wir diese Welt ein kleines bisschen ändern können, ja sogar müssen. Es macht mich glücklich, für Andere da zu sein.
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Photonachweis – Titelbild: Fabian Mondl / SOS MEDITERRANEE – es zeigt Christine (rechts im Bild) bei einem Training
Photonachweis – Beitrag: Hipployte / SOS MEDITERRANEE