Logbuch

[MEET THE TEAM] „Wir könnten für sie da sein, wir könnten diese Menschen vielleicht retten“

Dragos ist Teil unseres Such- und Rettungsteams. Sein Job wäre es, auf See zu sein und Menschen vor dem Ertrinken zu retten. Aber die Festsetzung der Ocean Viking durch die italienischen Behörden hindert ihn daran. Im Interview beschreibt er, was das mit ihm macht und wie wir alle dazu beitragen können, diesen unhaltbaren Zustand zu beenden.

Bitte stelle dich kurz vor. Was machst du, wenn du gerade nicht aktiv im Rettungeinsatz bist? Und was ist deine Aufgabe an Bord?

Ich wurde 1979 in der Nähe des Schwarzen Meeres in Rumänien geboren. Ich bin ein ehemaliger Journalist und Decksoffizier. Seit 2017 bin ich Mitglied des Rettungsteams von SOS MEDITERRANEE. Wenn ich an Bord des Schiffes bin, werde ich normalerweise als Besatzungsmitglied auf einem der Rettungsboote von SOS MEDITERRANEE eingesetzt. Ich habe an vielen Such- und Rettungseinsätzen an Bord der Aquarius und der Ocean Viking teilgenommen. In den letzten drei Jahren habe ich viel Freude und viele Tränen gesehen. Zu Hause unterstütze ich Freunde bei der Wartung ihrer Boote, verfolge die Nachrichten und verbringe Zeit mit meiner Familie.

Die Ocean Viking wird leider schon eine ganze Weile festgehalten. Wie ist das für dich, wie empfindest du die Festsetzung?

In dieser Situation der Blockade fühle ich mich wie ein Zuschauer einer Horrorshow, aber es ist leider keine Show, sondern das wirkliche Leben auf See. Wenn man zu Hause festsitzt, ist es sehr schwer, um zwei Uhr morgens einen Tweet zu lesen, der auf ein Boot in Seenot in dem Gebiet aufmerksam macht, in dem wir normalerweise operieren. «Wir könnten für sie da sein, wir könnten diese Menschen vielleicht retten», denke ich immer.

Diese Realität liegt vor unserer Haustür, aber sie scheint so weit weg vom Alltag der europäischen Bevölkerung  zu sein, dass die Menschen sie ignorieren. Auch wenn wir versuchen Aufmerksamkeit zu schaffen, scheinen die Schiffbrüche im zentralen Mittelmeer noch lange kein Ende zu haben.

Was hast du aus deiner Zeit an Bord gelernt? (Worüber reden die Menschen im Allgemeinen zu wenig?)

Ich betrachte es – wie auch meine Kolleg*innen – als Privileg, diejenigen zu treffen, die wir auf See retten. Die europäische Bevölkerung weiss sehr wenig über die Geretteten und die Torturen, denen sie ausgesetzt sind. Ich habe das Gefühl, dass es für die meisten Menschen einfacher ist wegzuschauen. Es ist schwer, sich zum Beispiel die moderne Sklaverei vorzustellen. Es ist ein Konzept, das wir aus Geschichtsbüchern und Filmen kennen. Aber sie findet immer noch gleich um die Ecke statt. Überlebende aus Libyen beschreiben unvorstellbare Menschenrechtsverletzungen. Wir versuchen die Menschen, die wir retten, so gut wir können zu unterstützen und für sie zu sorgen. Wir hören ihnen zu, behandeln sie mit Würde und versuchen, sie mit einigen beruhigenden Worten zu trösten. Manchmal ist eine trockene Decke und eine heisse Tasse Tee bereits der Beginn ihrer wiedergewonnenen Würde.

Ich wünschte, die europäische Bevölkerung wüsste mehr über die Lebensgeschichten der Menschen, die ihr Leben auf See riskieren auf der Suche nach Sicherheit. Dann, so glaube ich, würde unsere lebensrettende Mission nicht so politisiert, wie es gerade der Fall ist. Deshalb bezeugen wir so viel wir können, und wir werden dies so lange tun, wie es nötig ist.

Was wünscht du dir für die nächsten Monate und für deine Arbeit bei der Seenotrettung im Allgemeinen?

Wir sitzen schon viel zu lange auf dem Trockenen fest. Ich verstehe nicht, wie lebensrettende Einsätze auf See in den letzten Monaten und Jahren an den europäischen Grenzen so stark politisiert werden konnten. Wir sollten uns darüber im Klaren sein, dass die Menschen weiterhin fliehen werden und dass die Verhinderung des Einsatzes ziviler Rettungsschiffe nur noch mehr Menschenleben auf See fordern wird. Alle werden aus dieser Situation Verluste erleiden, und das ist ein Schandfleck für uns alle.