Logbuch

[BORD-TAGEBUCH] Hinter jeder Frage liegt der Abgrund

Triggerwarnung: Im folgenden Beitrag werden (sexualisierte) Gewalthandlungen und deren Folgen für die Betroffenen geschildert, die belastend und retraumatisierend sein können.


Auf einem Rettungsschiff im zentralen Mittelmeer zu arbeiten bedeutet akute Nothilfe zu leisten. Das sollte eigentlich selbstverständlich sein, allerdings wird die humanitäre Krise im Mittelmeer jetzt schon so lange in Politik und Medien diskutiert, dass es manchmal scheint, als gerate dieser Fakt in Vergessenheit. Wenn wir innerhalb von weniger als 48 Stunden über 400 Menschen retten und mit einer 31 Personen starken Crew auf der Ocean Viking versorgen, dann ist das Nothilfe im wahrsten Sinne des Wortes.

Als Communications Officer möchte ich positive Geschichten teilen, hervorheben, wie mutig und facettenreich die Menschen sind, die wir retten. Insbesondere die Frauen. Wenn ich also über die Frauen spreche, die wir diesen Januar an Bord hatten, dann möchte ich von “Bijou” erzählen, die ihre ganze Fluchtgeschichte in einem Lied verarbeiten und dazu ein Video drehen möchte. Oder von “Ange”, der kamerunischen Schneiderin, die Festtagskleidung für Hochzeiten und Feiern entwirft. Ich möchte von der Stärke der “Zauberin” erzählen, die ihre einmonatige Tochter in Sicherheit gebracht hat.

Aber das ist nur eine Seite der Geschichte. Die Wahrheit tut weh. Sie ist nicht romantisch. Nicht fair. Die Wahrheit macht wütend und krank. In der Nothilfe zu arbeiten bedeutet, dass die Wahrheit oft inmitten des Chaos herausbricht, während laufender Rettungen, während wir versuchen, die Sicherheit und das Wohlergehen mehrerer hundert Geretteter gleichzeitig sicherzustellen.

Hinter jeder Frage an eine weibliche Überlebende liegt der Abgrund. Das war das überwältigende Gefühl unter den weiblichen Teammitgliedern auf der Ocean Viking während des Einsatzes im Januar. Hannah, die Hebamme an Bord, ist seit vier Jahren darauf spezialisiert, mit Überlebenden sexueller Gewalt zu arbeiten. Sie hat in Krisen und Konflikten in verschiedenen Teilen der Welt gearbeitet. “Im Südsudan wird Vergewaltigung als Kriegswaffe eingesetzt,” erklärt sie. “Aber ich habe noch nie in einem Kontext gearbeitet, in dem sexuelle Gewalt so weitverbreitet, systematisch und brutal ist, wie das, was diesen Frauen in Libyen widerfährt.”

Was den Frauen, die wir retten, in Libyen widerfahren ist, das ist der Abgrund. Es können die einfachsten Fragen sein, die den Abgrund aufreissen und dann stehen wir da, gemeinsam mit den Überlebenden am Rande des Abgrunds, und schauen hinunter.

Das erste Mal tut sich der Abgrund diesen Januar auf der Ocean Viking nachts vor mir auf, inmitten einer schwierigen Rettung. Die Frauen sind schon in Sicherheit bei uns auf dem Mutterschiff, die Männer werden noch von dem Schlauchboot in Seenot gerettet. Ich übersetze für Hannah, die Hebamme, eine Frage, die den meisten einfach erscheinen würde: “Weisst du, ob du schwanger bist?” Die Geschichte bricht aus der jungen Frau heraus wie aus einem Riss in einem Staudamm. “Ich wurde vergewaltigt. Sie waren zu zweit. Beide bewaffnet.” Der Abgrund. Wir haben kaum Zeit, mit ihr zu sprechen, noch immer kommen Überlebende auf der Ocean Viking an. Wir müssen uns später um sie kümmern.

In derselben Nacht warten mehrere Frauen im Eingang der Klinik an Bord. Eine von ihnen klagt über Bauchschmerzen. Sie sagt sie brauche Medikamente, ich übersetze für Caterina, die Ärztin, aber ich verstehe nicht, was sie für ein Mittel braucht, also muss ich sie fragen, wofür sie es braucht. Zwei oder drei Tage zuvor wurde sie von der libyschen Küstenwache abgefangen und nach Libyen zurückgeschleppt. Sie wurde so geschlagen, dass sie eine Fehlgeburt erlitt. Einen ganzen Tag lang hat sie im Krankenhaus in Tripoli gewartet, bevor sie behandelt wurde. Jetzt braucht sie Antibiotikum wegen des Infektionsrisikos. Wieder tut sich der Abgrund auf. Bauchschmerzen, Schläge, Fehlgeburt. Wie ich später herausfinden werde, resultierte die Schwangerschaft aus einer Vergewaltigung. Die Frau und ihr Verlobter hatten entschieden, das Kind zu behalten, aber jetzt ist es nicht mehr da.

Die nächste Frau in der Klinik klagt über Schmerzen im ganzen Körper, Schwindel und Erschöpfung. Schliesslich vertraut sie Caterina und mir eine Geschichte an, die sie noch niemandem erzählt hatte. Nicht einmal ihrer Schwester. Zu gross ist ihre Scham. Sie weint und weint. Seit dem Zwischenfall habe sie sich komplett isoliert, sagt sie. Vor Scham. Caterina und ich können sie nur im Arm halten. Ihr sagen, dass es nicht ihre Schuld ist. Dass nicht sie diejenige ist, die sich schämen sollte, sondern die Männer, die ihr das angetan haben.

Caterina und ich treffen uns zwischen Untersuchungen in der Klinik für eine Pause von vielleicht 30 Sekunden, einen kurzen Moment der Stille. “Das Schlimmste ist, wenn sie sich bedanken,” sagt Caterina schliesslich. “Wir tun das absolute Minimum für sie und sie danken uns auch noch. Das hier sollte nicht mal notwendig sein. Was ihnen angetan wird ist unmenschlich. Aber ich kann nicht unmenschlich sein. Sie sollten uns doch nicht dafür danken, dass wir sie wie Menschen behandeln. Sie sind so stark. Ich weiss nicht, wie ich überleben würde.” Dann müssen wir weitermachen. Das hier ist immer noch eine Notsituation.

Eine weitere Überlebende, eine weitere Untersuchung. “Irgendwelche grösseren Eingriffe in der Vergangenheit?”, fragen wir. “Ein Kaiserschnitt vor ein paar Jahren.” Wir halten inne. Sie ist alleine an Bord. “Wo ist das Kind?”, fragen wir. Von der Mutter getrennt als sie auf das Boot stiegen, um aus Libyen zu fliehen. Der kleine Junge bekam Angst vor den bewaffneten Männern, “er ist mir einfach entwischt, zwischen meinen Beinen hindurch”, sagt sie. Als sie hinter ihm herrennen wollte, wurde sie unter vorgehaltener Waffe auf das Boot gezwungen. Sie hofft, dass er mit einer ihrer Schwestern vereint wird, die auch noch in Libyen ist. Der Abgrund. Schmerz über Schmerz.

Am Tag darauf höre ich die Geschichte der Frau, die in der Wüste vergewaltigt wurde, als sie nachts die Grenze zu Libyen überquerte. Sie war zu Fuss unterwegs, mit einer Gruppe von Menschen und einem Guide. Die Armee, Grenzpolizei oder eine Miliz entdeckte die Gruppe, aber liess sie ziehen. Alle ausser ihr. Sie blieb zurück. Die Männer, die Waffen, die Scham. Als sie sie gehen liessen, konnte sie vor Schwäche kaum laufen. Ihr Kleid, weg. Die Perücke, die sie auf dem Kopf trug, weg. Das Baby, mit dem sie schwanger war, als sie ihr Heimatland verliess, weg.

In der Nacht bevor die Geretteten an Land gehen dürfen, sind die Frauen und Kinder als letzte noch wach. In dem Container für weibliche Überlebende und kleine Kinder auf dem Deck der Ocean Viking sitzen sie in einem grossen Kreis und singen Loblieder, eine Art Gospel. Eine Frau spielt die Trommel. Vieles sind sogenannte “call and response”-Lieder, in denen die Frauen abwechselnd je eine individuelle Zeile singen, auf die die Gruppe im Chor antwortet. Im ersten Lied ist die Antwort “c’est cadeau” (das ist ein Geschenk), ein fröhliches Lied über Dankbarkeit und Demut. Als nächsten singen die Frauen über “là-bas” (dort drüben). Ein Lied über Hoffnung auf eine bessere Zukunft, die Gaben, die die Frauen entweder dort erwarten, wo sie bald ankommen werden, oder im Leben danach.

Sie stimmen ein neues Lied an, diesmal ist die Antwort “c’est fini-oh“ (oh, es ist vorbei). Wieder listen die Frauen abwechselnd all das auf, das endlich vorbei ist. Aber die Stimmung ändert sich. Sie singen jetzt von Libyen. “L’esclavage” (Sklaverei), singt eine Frau, “c’est fini-oh“, antworten die anderen. “La prison, c’est fini-oh“ (vorbei ist das Gefängnis). “Le viol, c’est fini-oh“ (vorbei sind die Vergewaltigungen). Die Frau, die zuvor getrommelt hatte, steht jetzt in der Mitte des Raumen, sie geht in eine Art Sprechgesang über. Sie sieht direkt zu mir, ich sitze in der Tür, zwei kleine Mädchen auf meinem Schoss, und zu Hippolyte, dem Comiczeichner, der mit uns an Bord ist und hinter mir steht. “In Libyen vergewaltigen sie uns mental, sie vergewaltigen unsere Körper, sie vergewaltigen unsere Kinder, Vergewaltigung ist überall.” Da ist er wieder: Der Abgrund. Ich sehe mich um. All diese Frauen, all diese Babys.

Als ich gerade die Tür zu dem Container für die Nacht schliessen will, kommt eine Frau mit mir nach draussen, um ihre Wasserflasche aufzufüllen. Sie klagt über Kopfschmerzen, ich biete ihr an, ihr Paracetamol zu besorgen. “Ich weiss nicht, ob das hilft,” sagt sie. “Ich habe diese Kopfschmerzen seit ich im Gefängnis war.” Und dann reisst der Abgrund wieder vor meinen Füssen auf, diesmal tiefer als zuvor.

Ich kann mich nicht dazu bringen aufzuschreiben, was mir diese Frau genau erzählt hat. Ich befürchte, dass niemand es glauben würde. Wir könnten den Text nicht mit genug Warnungen versehen. Was sie im Gefängnis durchlebt hat ist unbeschreiblich. Ich möchte nur so viel sagen: Sie ist erst entkommen, als die Wärter sie für tot hielten und ihren nackten Körper in einen Container auf der Strasse warfen. Am Ende ihrer Erzählung sagt sie: “Ich habe mir gesagt, wenn die libysche Küstenwache kommt, dann werfe ich mich ins Wasser. Ich habe im Gefängnis die Hölle auf Erden durchlebt. Ich habe Schlimmeres durchlebt als die Hölle. Ich habe überall Brandwunden durch Zigaretten. Ich trage die Beweise am ganzen Körper.”

Ich werde ihre Geschichte nie vergessen, aber ich muss nicht mit ihren Erinnerungen leben. Ich weiss nicht, wie sie es schafft. Ich kann nur hoffen, dass sie die Fürsorge bekommt, die sie verdient. In dieser Nacht, als wir zusammen am Wasserspender stehen, versuche ich mich an alles zu erinnern, was ich über psychologische erste Hilfe gelernt habe. Ich sage ihr, wie stark sie ist, dass nichts von alldem ihre Schuld ist, dass sie Libyen hinter sich gelassen hat. Es fühlt sich alles nichtig an. Keine von uns weint. Für sie wird es Zeit zu schlafen. Für mich wird es Zeit für meine Wache an Deck. Wir müssen dafür sorgen, dass alle die Nacht über sicher sind. Das hier ist immer noch eine Notsituation.

Für viele dieser Frauen wird es kein Happy End geben. Europa wird nicht das “là-bas” ihres Liedes sein, das gelobte Land. Während wir uns verabschieden und die Frauen von Bord gehen, fühle ich in erster Linie Wut. Ich bin wütend, dass ihnen all das heute passieren konnte, im 21. Jahrhundert. Wütend, dass das alles bekannt ist, und dass Europa trotzdem noch die libysche Küstenwache finanziert, die diese Menschen entgegen geltenden Rechts nach Libyen zurückzwingt. In ein Land, das wie ein einziges grosses unmenschliches Gefängnis für sie ist. Wütend, dass ich nicht mehr tun kann als es aufzuschreiben, obwohl alles schon gesagt wurde. In der Hoffnung, dass mir jemand an den Rand des Abgrunds folgt, mit mir hinunterschaut, und wirklich hinsieht, sich diese Realität, den Horror, die Ungerechtigkeit, wirklich ansieht. Damit wir gemeinsam endlich mehr tun, um unsere Mitmenschen zu beschützen.

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Text: Julia, Communication Officer an Bord der Ocean Viking
Fotonachweis: Hippolyte / SOS MEDITERRANEE