Logbuch

[Carnets d’Hippolyte] Tagebuch eines Comic-Reporters

Bei unserem ersten Einsatz in diesem Jahr begleitet uns der Comic-Reporter Hippolyte. Sein Aufenthalt an Bord war schon für den Sommer 2020 geplant – dann wurde die Ocean Viking im Juli 2020 durch die italienischen Behörden in Porto Empedocle, Sizilen, festgesetzt. Von Marseille und Sizilien aus begleitete Hippolyte die Bemühungen um die Freilassung unseres Rettungsschiffes.

Am 11. Januar 2021 nahm die Ocean Viking Kurs auf das zentrale Mittelmeer. An Bord: Hippolyte und sein Notizbuch, in dem er anhand von Illustrationen und Texten einen ganz besonderen Eindruck unseres lebensrettenden Einsatzes vermittelt.

Hier veröffentlichen wir ausgewählte Zeichnungen und Texte. Das Datum gibt dabei das jeweilige Veröffentlichungsdatum auf dem Schweizer Online-Magazin Heidi News an, wo alle Artikel in französischer Sprache nachgelesen werden können.

Übersicht

Episode 26 – 30. Dezember 2020: Zurück im Einsatz mit der Ocean Viking (Retour en mer pour l’Ocean Viking.)
Episode 28 – 6. Januar 2021: Atmen (Breath (Respirer))
Episdoe 31 – 14. Januar 2021: Tanguy, unermüdlicher Einsatz (Tanguy, le sauvetage à l’infini.)
Episode 32 – 15. Januar 2021: Die Menschenkette (La chaîne humaine)
Episode 33 – 18. Januar 2021: Alles ist symbolisch (Tout un symbole)
Episode 34 – 22. Januar 2021: Alle Sinne sind aktiviert (Tous les sens en éveil)
Episode 37 – 18. Januar 2021: Ein Licht in der Dunkelheit (Une lumière a la nuit)
Episode 38 – 23. Januar 2021: Vogelfinger (Des doigts d’oiseaux)
Episode 39 – 23. Januar 2021: Du bist in Sicherheit (You are Safe )
Episode 40 – 23. Januar 2021: Ein wahrer Held (L’étoffe des héros)
Episode 41 – 24. Januar 2021: Dir können wir vertrauen (Y’a de quoi te faire confiance)
Episode 42 – 25. Januar 2021: Seine Geschichte aufschreiben (Écrire son histoire)

Episode 26 – 30. Dezember 2020

Zurück im Einsatz mit der Ocean Viking

Am 27. Dezember kehrte die Ocean Viking endlich nach Marseille zurück, nachdem sie von den italienischen Behörden freigegeben wurde. Luftlinie nicht weit vom Hafen entfernt, befinden wir uns für zehn Tage in Quarantäne mit der Crew, welche aus 24 Personen besteht, die auf 24 Zimmer verteilt sind und zwischen PCR-Tests und täglichen Temperaturmessungen nur elektronisch kommunizieren.

Ich bin wieder auf einige Freunde getroffen, die ich im Sommer zurückgelassen hatte: Gavino, Mat‘, Julia und Luisa, die mit dem Rest der SOS MEDITERRANEE-Teams während diesen fünf Monaten unermüdlich gearbeitet haben. Die Quarantäne nutzen wir, um alle internationalen Teammitglieder kennenzulernen und uns so gut wie möglich auf den Einsatz vorzubereiten.

Episode 28 – 6. Januar 2020

Atmen

Den ganzen Tag über fiel Regen auf die phokäische Stadt und auf dieses kleine Hotel in der Nähe des Prado, wo sich die 24 Mitglieder von SOS MEDITERRANEE, die seit vier Tagen in Quarantäne sind, versammeln. 24 Personen, 24 Räume, 10 Tage Quarantäne, 10 Tage Vorbereitung und 24 Bildschirme, die fast ununterbrochen leuchten. Wenn das Wetter nicht zur Flucht einlädt und während draussen Feste und Versammlungen verboten sind, sind die Tage hier reich gefüllt und durchgeplant, um nichts dem Zufall zu überlassen.

Jeden Tag werden Trainings zu diversen Themen über Bildschirme fortgesetzt. Sie beziehen sich auf das Schiff und die Arbeitsweise der verschiedenen Teams an Bord. Auf diese Weise werden wir uns bewusst, was uns erwartet. Um am Tag X bereit zu sein. Oder an den Tagen X. Heute hatten wir mit Anna sogar einen Kurs in Navigation und Kartenlesen. Eine Orange stellte den Globus dar. Die Kunst, sich an alles anzupassen.

Am Vorabend ging ich runter in den Gemeinschaftsraum. Wir konnten uns endlich in kleinen Gruppen zusammenzufinden, jetzt, wo wir alle negativ getestet wurden. Wir behalten unsere Masken auf und halten trotz allem Abstand. Es war fast erstaunlich, die Menschen wieder zu sehen. Erik, vom Such- und Rettungsteam (SAR-Team) leitete einen Workshop über Selbstkontrolle und Atmung unter Stress. Draussen rauchte ein Teil des Teams eine Zigarette an der frischen Luft. Eine Art des Atmens.

Heute Morgen haben wir erneut einen PCR-Test durchgeführt.

Die Ergebnisse werden am Abend erwartet. Louise, die stellvertretende Leiterin an Land, macht sich mit einem komplizenhaften Halblächeln Gedanken darüber.

„Nun… wie wir auf Französisch sagen, werden wir eine Kerze anzünden (brûler un cierge) und hoffen, dass niemand Covid hat.“

Episode 31 – 14. Januar 2021

Tanguy, unermüdlicher Einsatz

Tanguy ist der Leiter des Such- und Rettungsteams (SAR). Er ist für die RHIBs (Rigid-Hull Inflatable Boats) zuständig, jene schnellen Schlauchboote, die den ersten Kontakt mit Booten in Seenot herstellen, wiederum nach einem gut etablierten Protokoll, das auch COVID-19-Massnahmen beinhaltet.

Tanguy ist auf der Ocean Viking ganz bei sich. Das Meer und die Rettung ist sein ganzes Leben. Der fast 40-jährige Bretone, der einige Jahre als Soldat im Zivilschutz bei Rettungseinsätzen sowie als Feuerwehrmann und als Fischer arbeitete, ist heute der dienstälteste Matrose bei SOS MEDITERRANEE. Auf der Aquarius seit August 2016. Dann auf der Ocean Viking bis heute.

„Meine Hauptaufgabe ist es, Menschen auf See zu retten und die Teams dafür zu leiten. Jetzt ist Winter, was meine Arbeit viel komplizierter macht, der Wellengang ist grösser, der Wind ist stärker, sodass die Boote weniger stabil werden, besonders die hölzernen. Die Gummiboote werden durch die Zeit, die sie auf See verbringen, weniger widerstandsfähig sein, so dass die Wahrscheinlichkeit, dass sie kaputt gehen, grösser ist und somit die Wahrscheinlichkeit, dass es zu extrem schwierigen Situationen kommt. Das bedeutet viel mehr Stress und Druck. Das ist es, was mich im Moment am meisten beunruhigt, den Rest machen wir wie immer, wir werden damit umgehen.“

Episode 32 – 18. Januar 2021

Die Menschenkette

Ich gehe an Deck und spüre die Seeluft und das Holz unter meinen Füssen, zwei Elemente, die ich fast vergessen hatte. Am Heck der Ocean Viking, auf Höhe der beiden Containerstockwerke, hat sich eine grosse Menschenkette gebildet, wie schon am Tag zuvor. „Wir haben gestern den ganzen Tag Kisten geschleppt, wir könnten hier Hilfe gebrauchen.“ (…)

Als Leiter des Teams, das sich um die Überlebenden kümmert, ist Karim vom Männercontainer aus aktiv und dirigiert das Manöver mit seinem Funkgerät: 50 Quadratmeter, bis zur Decke gefüllt mit Hunderten, Tausenden von Kisten, die in das Oberdeck verlegt werden sollen. Zu den Lagerbereichen. Um den zukünftigen Überlebenden Freiraum zu geben und ihr Überleben zu sichern. Tonnenweise Lebensmittel, Überlebenskits und Medikamente.

Episode 33 – 18. Januar 2021

Alles ist symbolisch

Die Abfahrt der Ocean Viking ist für 9 Uhr geplant.

Sophie, Fred und Max stehen am Pier. Im Wettbewerb um das glücklichste Lächeln zwischen Land und Meer ist jeder ein Gewinner. Es ist ein echter gemeinsamer Sieg, von mehreren Monaten, der unsere Augen blendet. Ein jahrelanger Kampf, der Freudentränen hervorruft.

Es ist nicht nur ein Schiff, das losfährt, während andere untergehen. Es ist eine Hoffnung, die anhält; ein Traum, der weitergeht. Vom Land bis zum Meer, entgegen aller Widerstände, für die Solidarität.
Die Männer am Pier binden die Seile los und schauen uns mit einem mitwissenden und bewundernden Lächeln an. Der Abstand zwischen dem Pier und dem Schiffsrumpf wird langsam immer grösser. Je weiter wir uns entfernen, desto intensiver winken die Teams an Land. Dank ihnen sind wir heute auf diesem Schiff und jetzt liegt es an uns, sie zu ehren – jeder auf seiner Ebene. Hinter diesem Schiff stecken viele Menschen. Am Backbord. Am Steuerbord. An Land. Im Herzen.

Episode 34 – 22. Januar 2021

Alle Sinne sind aktiviert

Wie jeden Tag gehe ich im Morgengrauen auf das Oberdeck, um das Licht um uns herum zu sehen, das sich seinen Weg bahnt. Ich bin oft der Einzige, der mit den Mitgliedern der maritimen Crew an Deck steht. Heute Morgen nicht. Charlie ist schon an Deck. Die Füsse am Boden verwurzelt, die Ellbogen an den Lüftungsschlitz gepresst, das Fernglas in der Hand. Er sucht den Horizont ab.
«Man merkt nie, wie gross das Mittelmeer ist. Gigantisch. Stell dir ein kleines Boot vor, das sich mitten darin verirrt hat. Nachts. Es ist fast unmöglich, es ausfindig zu machen. Während die Leute an Bord rufen, weil sie uns mit unseren vielen Lichtern sehen. Sie rufen uns, und wir hören sie nicht.»
Alle Sinne müssen aktiviert werden. Vielleicht gibt es da draussen jemanden. Ein sinkendes Schiff. Da. Irgendwo da draussen.

Episode 37 – 22. Januar 2021

Ein Licht in der Dunkelheit

Während der ganzen Nacht war die Ocean Viking dem winterlichen Wellengang ausgesetzt und liess unsere halb-schlafenden Körper wie auf einer Achterbahn, ausser Kontrolle, hin und her schwanken – den Turbulenzen vollkommen ausgesetzt.

Es ist sechs Uhr morgens. Es ist noch immer stockdunkel in meiner Kabine. Nur der Schaum der Wellen, die gegen das Bullauge schlagen, sorgt kurz für etwas Licht, wie eine Liebkosung in der Nacht.

Mein träger Körper versucht aufzustehen, nach einem Handtuch zu greifen und während den weiten drei Metern bis zum Badezimmer nicht umzufallen. Mit einer Hand verteile ich Shampoo in meinen Haaren, mit der anderen halte ich mich am Sicherheitsgriff an der Wand fest. Der Boden wird eine Eisbahn, das Waschbecken eine Keule und der Vorhang meine Rettungsleine.

Die Ocean Viking patrouilliert in der Such- und Rettungszone und muss dabei dem hohen Wellengang standhalten.

Charlie ist an Deck. Er steht sicher auf beiden Beinen. Im Halbdunkel beginnt er mit der Brückenwache, Anna übernimmt die Wache per Fernglas. Sie suchen nach Booten in Seenot. Jede Stunde wechseln sich die Mitglieder des Rettungsteams am Beobachtungsposten ab.

***

Episode 38 – 23. Januar 2021

Vogelfinger

8:00 Uhr morgens. Bei Tagesanbruch  treffen wir auf ein Boot in Seenot. Auf dem Boot befinden sich zahlreiche Kinder. Ein einmonatiges Mädchen wird von einem Mann hochgehalten, in Richtung von Tanguy und Mimi. Sie wird von einem Boot ins andere gehievt, wie von einer Welt in die andere. […] Das Baby wird mir in die Hände gegeben, meine Arme werden zu einer Wiege. So ein kleiner Körper. Ihr Gesicht verschwindet fast in der für sie viel zu grossen Rettungsweste, welche ihr Gesicht wie ein orangefarbener Heiligenschein umhüllt. Mehr Kinder werden auf das Schnellboot gehoben, eines nach dem anderen. Mit einer Hand halte ich das Baby, mit der anderen helfe ich den anderen Überlebenden, sich hinzusetzen. Ich versuche sie mit meinem Blick und meiner Stimme zu beruhigen. Immer mehr Kinder kommen dazu. Wir müssen einen Platz für sie finden. Sie setzten sich in der Mitte des Bootes hin, fern vom Rand. Die älteren Kinder werden angewiesen, die jüngeren zu halten. Ich kann sie nicht mehr zählen, die Zahlen machen keinen Sinn mehr. Am liebsten würde ich sie alle in meine Arme schliessen. Ich schaue auf das Baby in meinen Armen. Es ist das Einzige, welches sich auf dem Boot beruhigt hat. Es tröstet mich. Tränen steigen in mir auf, wie ein Strom fliessen sie durch meine Augen. Doch ich muss mich zusammenreissen. Meine Traurigkeit ist nichts im Gegensatz zur unendlich grossen Verzweiflung dieser Menschen. Ausnahmsweise kann ich mich nicht hinter einer Kamera oder meinem Bleistift verstecken. Jede Sekunde fühlt sich wie eine Stunde an. Sobald alle Kinder an Bord sind, werden Rettungswesten an die Erwachsenen an Bord des Bootes in Seenot verteilt. […] Das Baby beginnt zu weinen, als wir zurückfahren. Es weint um seine Mutter. Ein anderer übergibt sich neben mir über Bord. Ich halte ihn mit meiner freien Hand fest. Es ist, als würde er sich von allem Schmerz befreien. Das Boot bewegt sich hin und her und das kleine Mädchen schreit noch lauter. Ich halte sie noch fester in meinen Armen. Die anderen Kinder klammern sich an meine Finger. Mit meinen Fingerspitzen trockne ich die Tränen des Babys und streichle über sein Gesicht. Es öffnet seinen Mund und nuckelt an meinem Finger, beruhigt sich und die Augen öffnen sich. Tränen fliessen. Wir beruhigen uns gegenseitig. Meine Hände waren noch nie so nützlich wie heute.

Episode 39 – 23. Januar 2021

Du bist in Sicherheit

Eine im achten Monat schwangere Frau, Nadine, muss aufgrund ihres gesundheitlichen Zustandes dringend evakuiert werden («Medevac»). In weniger als einer Stunde bekommen wir eine positive Antwort zurück: eine gute Nachricht und ein positives Zeichen. Ein Schiff der italienischen Küstenwache wird in 30 Minuten eintreffen. Ich erinnere mich daran, unter den Kindern bei der Rettung gestern eine schwangere Frau gesehen zu haben. Ihre zierlichen und unbeholfenen Bewegungen verrieten ihren Zustand. Doch ihre Gesichtszüge waren trotz ihrer Schmerzen schön und fein. Ich habe nur noch wenig Zeit, sie zu zeichnen aber wahrscheinlich nicht genug Zeit, um ihre Geschichte zu erzählen. Ich gehe in die Klink an Bord. Caterina ist an ihrer Seite. Die junge Frau sitzt auf dem Bett, ihr grosser runder Bauch zeichnet sich unter ihrem schwarzen Trainingsanzug ab. Ich sitze vor ihr. Sie ist heiter und sanft. Ich scheine sie in keiner Weise zu stören. Ich nehme mein Notizbuch heraus. […] Nadine erzählt von ihrer Reise, dem Gefängnis, das sie zwei Tage zuvor in Libyen verlassen hat, von ihrem Mann, der noch dort ist und den sie hofft, bald zu finden. Es geht alles sehr schnell, wir müssen uns verabschieden. Wir lächeln uns gegenseitig an. Nadine nimmt sich die Zeit, jedem Teammitglied um sie herum zu danken, sich von anderen Geretteten und von den Kindern zu verabschieden. Ganz leise und ohne Eile. Sie ist die Erste, die das Schiff verlässt. Die Emotionen überwältigen uns, als das Schiff der italienischen Küstenwache sich nähert. Christine, die Medical Teamleaderin an Bord, hält Nadines Hand ganz fest. Dieses Band wird nicht brechen. Auf beiden Seiten.

Episode 40 – 23. Januar 2021

Ein wahrer Held

Riad, der Kulturvermittler, kommt auf mich zu, um mit mir zu sprechen. Den ganzen Tag über hört er zu und spricht mit allen Geretteten an Bord. Er ist das Bindeglied auf dem Schiff. Er berichtet:

«Heute hörte ich eine bewegende Geschichte. Eine Frau, die wir aus dem ersten Boot in Seenot gerettet haben, wurde einige Tage zuvor von der libyschen Küstenwache abgefangen und zurück in ein Internierungslagergebracht. Sie war im zweiten Monat schwanger. In derselben Nacht sah ein Mann, wie die Frau misshandelt und geschlagen wurde. Er hatte Mitleid mit ihr. Der Mann hatte zwei Kugeln in seinem Bein und war daher für die Gefängniswärter nicht mehr von Nutzen. Er bezahlte sie und sagte ihnen, dass die schwangere Frau seine Frau sei – nur um sie zu retten. Sie konnten das Lager zusammen verlassen und riskierten die Überfahrt ein weiteres Mal. Jetzt sind sie hier. Er mit einem vergipsten Bein. Sie ohne ihr Baby. Doch sie sind beide am Leben und in Sicherheit. Ich sagte dem Mann, er sei ein Held. Doch er meinte nur, es sei nicht der Rede wert. Es war nichts.»

Episode 41 – 25. Januar 2021

Dir können wir vertrauen

Es ist der dritte Tag seit der ersten Rettung. Der dritte Morgen, an dem wir das Leben mit den 373 Geretteten an Bord der Ocean Viking organisieren.

«Ich habe ein gutes Gefühl, wir werden bald einen sicheren Hafen zugewiesen bekommen. Heute wird sich was tun.» Hassans Funkgerät knistert. Luisa ruft alle in den Gemeinschaftsraum, sie hat uns einige Neuigkeiten zu verkünden. Hassan lächelt mich an, ohne ein Wort zu sagen. Er weiss es. Die Crew versammelt sich in einem Kreis um Luisa. «Seit drei Tagen schreibe ich den Behörden und bitte sie um einen sicheren Hafen, um die Überlebenden an Land zu bringen. Wir haben soeben die Nachricht erhalten: Wir können die Geretteten ab morgen nach Augusta, Sizilien, bringen.»

Ich folge der Crew an Deck, hinter den beiden Megaphonen, die Karim und Riad fest in einer Hand halten. Ich habe das Gefühl, Teil einer historischen Ankündigung zu sein – was sie gewissermassen auch ist.

Es ist unmöglich, alle Menschen an Bord an einem Ort zu versammeln. Wir gehen zuerst in das Frauenshelter. Die Frauen sitzen dort in Ruhe mit ihren Kindern und Babies. Karim verkündet die Nachricht auf Englisch. Sie verstehen die Nachricht nicht. Die meisten von ihnen sprechen Französisch. Vereinzelt applaudiert jemand. Riad wiederholt die Neuigkeit auf Französisch, dann auf Arabisch. Die Stimmung explodiert! Die guten Nachrichten verbreiten sich an Deck, sie hüpfen von Herz zu Herz, durchqueren alle Körper.

Episode 42 – 24. Januar 2021

Seine Geschichte aufschreiben

Die Ocean Viking nähert sich der sizilianischen Küste. Mit Riad gehen wir zu allen Überlebenden und bitten sie, alles mitzunehmen, was SOS MEDITERRANEE ihnen gegeben hat.

Die Anlandung steht kurz bevor und ich möchte die Menschen finden, die mit mir auf dem Rettungsboot waren, die ich in den Armen gehalten oder beruhigt habe: vor allem natürlich das Baby, dem ich meinen Finger zur Beruhigung gegeben habe. Ich möchte sie alle ein letztes Mal sehen.

Die zweite Person, von der ich mich verabschieden will, ist gleichzeitig die letzte Person, die neben mir sass: Moussouni. Er unterschied sich von den anderen Überlebenden:  schön geschwungener Schnurrbart, fein gewundener Turban. Dazu ein stolzer und gerader Blick. Innerhalb weniger Sekunden bricht er in Tränen aus und bringt mir seine Traurigkeit, aber auch seine Freude entgegen: «Sie haben unsere Leben gerettet. Sie haben die Menschheit gerettet. Danke. Danke. Danke. Danke. Danke. »

Seit er an Bord ist, fragt er nach französischen Büchern, damit er lesen kann. Er träumt davon, Schriftsteller zu werden, ein Journalist. Er begann, seine Geschichte in eines der grosses Notizbücher, die  wir an Bord haben, zu schreiben und füllte die Seiten mit seiner schönen Handschrift. Ich mag es, seine Züge zu zeichnen, sein Gesicht, seinen durchdringenden Blick unter seinem Turban.

***

Illustrationen und Texte: Hippolyte
Übersetzungen aus dem Französischen: SOS MEDITERRANEE