Logbuch

[Hippolytes Tagebuch] „Ein Neugeborenes an Bord“

Der Comicreporter Hippolyte hat unseren ersten Einsatz in diesem Jahr mit Stift und Notizbuch begleitet. In zahlreichen Texten und Illustrationen, aber auch Fotos, hält er seine Eindrücke fest. Eine Auswahl an Ausschnitten bisher erschienener Texte und Bilder können ins unserem fortlaufenden Beitrag „Carnets d`Hippolyte“ nachgelesen werden.

Hier schildert er die Ankunft geretteter Menschen – vor allem der Frauen und Kinder – an Bord der Ocean Viking. Insgesamt 119 Menschen werden bei diesem ersten Rettungseinsatz am 21. Januar 2021 aus einem überbesetzten Schlauchboot geborgen und in Sicherheit gebracht.

21. Januar 2021

Die ersten Überlebenden nähern sich dem Schiff im Rettungsboot Easy One. Etwa zwanzig Menschen. Nur noch wenige Augenblicke trennen sie von unseren helfenden Händen.

Das erste Kind wandert von Helfer zu Helfer, bis es an Bord ist. Es ist ungefähr drei Jahre alt. Es weint. Christine, Ophélie, Hannah und Caterina vom medizinischen Team nehmen es in Empfang. Ich halte den Moment mit der Kamera fest. Es ist ein merkwürdiges Gefühl, eine Szene zu fotografieren, die ich schon tausendfach gesehen habe. Ich erlebe sie zum ersten Mal. Die Realität ändert alles.

Ich mache Foto um Foto. Wie auf Autopilot. Frauen. Männer. Ein kleiner schwarzer Koffer, seltsam geformt. Darin ein weisses Fell. Ich brauche ein paar Sekunden, bis mir aufgeht: Das ist der Aufsatz eines Kinderwagens! Mitten auf dem Wasser. Mit einem lebenden Baby darin. Das seit Stunden auf dem Wasser treibt. Surreal.

„Willkommen. Welcome.“ Zwei weitere Kinder werden an Bord gebracht. Beide weinen. Sie stehen unter Schock. Sind völlig erschöpft. Sie sind seit Stunden unterwegs. Seit Tagen. Seit Monaten. Noch wissen wir nicht, was sie erlebt haben, wo sie herkommen. Aber eins haben sie alle gemeinsam. Sie waren an einem hoffnungslosen Ort: Libyen.

Eine Frau versucht, sich an Boot zu ziehen. Ihr Körper lässt sie im Stich. Ihre Arme sind nicht mehr stark genug, um sie an Deck zu hieven. Meine Kamera ist nutzlos, sie hält mich auf Abstand. Mat und ich greifen nach ihren Armen. Die erste Berührung. Ich spüre das Gewicht ihres Körpers. (…) Die Nässe ihrer Kleidung. Sie schreit vor Schmerzen. Ihr versagen die Knie. Wir halten sie fest, lassen sie nicht los. Meine Worte kommen zu spät: „Sie sind in Sicherheit. Wir werden uns um Sie kümmern.“

„Mein Fuss, ich habe Schmerzen.“ Sie weint, sie spricht Französisch. Der Rest des Teams ist mit den anderen Geretteten beschäftigt. Ich helfe der Frau, sich auf einen Stuhl zu setzen, und bleibe bei ihr. Sie scheint am Ende ihrer Kräfte zu sein.

Durch meine Maske hindurch versuche ich, sie zu beruhigen. Unsere Blicke begegnen sich. „Wir haben Ärzte an Bord. Man wird Sie versorgen. Alles wird gut. Sie können sich endlich ausruhen. Hier sind Sie in Sicherheit.“ Ihr Fuss tut seit drei Tagen weh.

Das medizinische Team ist mit den Kleinkindern beschäftigt. Sie wird sich noch etwas gedulden müssen. Christine und ich bringen sie in den Container, der den Frauen und Kindern vorbehalten ist. Das Neugeborene und die Kleinkinder sind bereits dort. Alle brauchen neue Kleidung, ihre sind durchnässt und mit Benzin vollgesogen. Die Kanister sind während der stundenlangen Überfahrt ausgelaufen und das Benzin hat sich im Boot verteilt.

Sie brauchen eine Dusche. Saubere Kleider, neue Kraft. Etwas zu essen. Zu trinken. Wärme. Jemanden, der sie beruhigt. Am anderen Ende des Decks stehen die Männer in einer langen Schlange an, um Auskunft zu geben über ihr Alter, ihr Herkunftsland, ihren Aufenthaltsort vor der Ankunft in Libyen, eventuelle Krankheiten oder Verletzungen. Man misst ihre Temperatur. Die Männer werfen ihre Kleidung in grosse Plastikbehälter. Als würden sie die Vergangenheit ablegen. Sie ziehen neue, warme Kleider an. Wie eine neue Haut.

Zwei Stunden lang fahren die Rettungsboote EZ1 und EZ2 hin und her. Beständig. Jedes Mal bringen sie ungefähr 20 Gerettete an Bord. Jedes Mal ist es dasselbe Ritual. Dieselben Gefühle. Freude. Tränen. Hände, die sich festklammern. Lächeln. Haut an Haut. Blicke, die einander begegnen. Augenblicke der Verbundenheit, kurz, aber ungeheuer intensiv. Unter meiner Jacke habe ich Gänsehaut. Spitze Knochen unter durchnässten Kleidern. Benzingeruch. Erschöpfte Körper finden Trost. Ruhe. Frieden.

Alle Geretteten sind heil an Bord. 119 Menschen wurden heute gerettet. Darunter drei Kinder. Und ein Säugling, gerade einen Monat alt. Geboren am 17. Dezember. Aboubacar.

Mimi kommt raus und bringt Tanguy, mit dem ich die wohlverdiente Zigarette nach der Rettung rauche, einen Kaffee. In einer ruhigen Ecke. Am anderen Ende des Schiffes. Eine kurze Pause. In der alles von einem abfällt. Mimi macht als Erste den Mund auf:

„Für diese Menschen ist das ein absoluter Moment. Heute sind sie nach Monaten, nach Jahren, endlich der Hölle entkommen. Aufs Meer hinauszufahren, so wie sie es getan haben, ist wie die Überquerung des Flusses Styx in der griechischen Sage. Sie haben die Unterwelt verlassen, das Reich des Todes. Jetzt sind sie in Sicherheit. Man kann sich das gar nicht vorstellen“.

Der heutige Rettungseinsatz ist ein Erfolg. „Solange nicht alle an Bord sind, finde ich keine Ruhe. Man darf sich keine Pause gönnen“. Einen Kaffee und eine Zigarette gibt es erst, wenn alle gerettet und in Sicherheit sind. An Bord. Dann hat man sich die Zigarette verdient. Eine Pause für alle.

Mimi hat während der Rettung erfahren, dass es noch nicht vorbei ist. „Ich habe gemerkt, dass Tanguy es eilig hatte. Als er mir sagte, dass zwei weitere Boote aus Seenot gerettet werden müssen, habe ich verstanden, warum er es so eilig hatte. Wir durften keine Sekunde verlieren. Man muss die Menschen in Sicherheit bringen, und dann gleich wieder losfahren, um die nächsten zu retten“. Die Ocean Viking nimmt wieder Fahrt auf, in Richtung weiterer Menschen draussen auf dem Wasser. Ein winziger Ort der Hoffnung im weiten Meer.

Dann trifft die Nachricht ein: Das zweite Boot ist in Richtung einer Ölplattform abgedriftet. In die Sicherheitszone geraten. Die libysche Küstenwache hat die Menschen aufgegriffen. Sie zurück in die Hölle der libyschen Gefängnisse gebracht. Das Gebiet ist seit zwei Jahren unter Kontrolle der libyschen Küstenwache. Im Auftrag der europäischen Behörden. Es wäre ihre Pflicht, die Geretteten in einen sicheren Hafen zu bringen. Ein libysches Gefängnis ist kein sicherer Ort. Libyen ist kein sicherer Hafen. Und Europa verschliesst vor all dem die Augen.

Alle Geretteten an Bord kennen diese Gefängnisse. Auch die Mutter der dreijährigen Aïcha. Vor sieben Monaten hat sie mit ihrem Mann und Aïcha den Norden Malis verlassen. Ihre Durchquerung Afrikas endete vor drei Monaten. In Libyen. In einem Gefängnis. Man erpresste sie, Geld gegen Freiheit. Ihre Familien konnten die verlangte Summe nur für die Mutter und die Tochter aufbringen. Nicht für den Mann, er ist immer noch im Gefängnis eingesperrt. Ein Schatten unter Schatten. „Sie haben zu viel Geld verlangt. Viel zu viel. Nur ich und Aïcha durften gehen. Mein Mann hofft, irgendwann nachkommen zu können“.
Wir unterhalten uns vor einer Weltkarte, die in der Krankenstation mit Tape an die Wand geklebt ist. Naiv frage ich, wo sie hinwill. „Frankreich, vielleicht nach Frankreich“.
Ihre Muttersprache ist Bambara, ihr Französisch ist schlecht. Sie hat nur einen begrenzten Wortschatz. Ihre Hoffnung ist ungebrochen. Für sie. Für ihren Mann. Für ihre Tochter Aïcha.

Aïcha tanzt inmitten der Geretteten, die ihre Freiheit besingen, Aïcha wird von Arm zu Arm weitergereicht, Aïcha greift sich das Einhorn-Stofftier, das seit der Abfahrt in Marseille unser Maskottchen ist. Niemand weiss genau, wie es an Bord gelangt ist. Wie Aïcha. (…)

Leo, der junge Rettungsbootfahrer aus Irland, fragt sie, wer höher springen kann, das Einhorn oder er. Ich mache mich klein, um mit ihr auf einer Höhe zu sein. Um auf Augenhöhe zu sein. Ich blicke in die Augen eines Kindes, das in einer neuen Umgebung Spass hat. Um auf Höhe der Öffnungen im Bug zu sein, hinter denen das Meer vorbeizieht. Blau hinter dem Rot der Ocean Viking. Unsere Blicke gehen in dieselbe Richtung. Einen Moment lang existiert nichts anderes um uns herum. Nur die Freude eines Kindes. Keine Schmerz, nur Lachen. Spiele. Kitzeln. Sie schwebt als Flugzeug auf meinen Händen. Ihre Mutter sieht uns fröhlich zu. Ophélie greift nach meiner Kamera, um den Augenblick festzuhalten. Einen Moment lang steht alles still. Eine Oase innerhalb der Oase. Mitten auf dem Meer. Freudentränen.

Später geselle ich mich zu Yann. Er hatte heute Nachtwache, von 2 bis 4 Uhr morgens, er behält das Deck mit den Geretteten im Auge. Die Besatzungsmitglieder wechseln sich mit den Schichten ab. Jemand anders steht mit dem Fernrohr auf der Kommandobrücke.

Yann ist im Kontakt mit seinen Leuten in Frankreich. Alle haben bereits von der heutigen Rettung gehört. Nachrichten um Nachricht trifft ein.
„Ich weiss nicht, was ich antworten soll. Sie schreiben: ‚Ihr seid so stark. Ihr tut etwas gegen die Not in der Welt. Ihr seid so mutig.‘ Dabei ist das hier einfach nur schön. Ich habe nicht das Gefühl, was Verrücktes zu tun. Wir strecken doch nur eine Hand aus. Ich verstehe ja, was man aus der Ferne für Gefühle haben kann. Aber ich sehe mich nicht als Held. Wir befinden uns am Ende einer unglaublichen Kette und tun unsere Arbeit. Das ist sehr schön.“ Alle Menschen an Bord sind unglaublich. Die Mitglieder des Rettungsteams, die Geretteten.

Das dritte Boot in Seenot, das heute Morgen gemeldet wurde, wurde von der libyschen Küstenwache abgefangen. Heute Abend gibt es keinen weiteren Rettungseinsatz.

In der Nacht trete ich hinaus an Deck, allein.
Die See ist ruhig. Im Wasser spiegelt sich das Mondlicht.
Aïcha, ihre Mutter, der kleine Boubacar und alle anderen Geretteten schlafen friedlich, nebeneinander, in Decken gewickelt, in den beheizten Containern, auf einem Schiff, das eine helfende Hand ausstreckt. Eine schwimmende Oase inmitten der Fluten.

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Übersetzung aus dem Französischen: Tanja Schabacker
Redaktion: Sonja Finck
Photonachweise: Hippolyte