[BORD-TAGEBUCH] Humanitäre Organisationen auf See: unerwünschte Zeugen
Mit dem Fernglas in der Hand scannt der Retter stundenlang den Horizont. Die Fotografin hält mit ihrer Kamera in der Hand fest, was sie sieht. Die Journalisten beobachten, fragen, analysieren. Sehen können bedeutet helfen können, sehen können bedeutet aber auch, eine Geschichte erzählen zu können: Leben retten und Zeugnis ablegen sind zwei der Kernaufgaben von SOS MEDITERRANEE. Mit der zunehmenden Kriminalisierung von Flucht und Migration, von Seenotrettung und Fluchthilfe wird es durch die aktuelle europäische Migrationspolitik immer schwieriger, sich solidarisch mit fliehenden Menschen zu zeigen. Jetzt, wo eine Seenotrettungsorganisation nach der anderen zum Schweigen gebracht wird, werfen wir erneut einen Blick auf unsere Aufgabe, über die Situation auf See Zeugnis abzulegen.
Lasst uns nicht die Augen vom Mittelmeer abwenden.
Im Sommer 2017 haben in internationalen Gewässern vor der Küste Libyens abwechselnd circa ein Dutzend Nichtregierungsorganisationen (NGOs) Menschen in Seenot zur Seite gestanden und als Augen und Ohren der europäischen Zivilgesellschaft fungiert. Heute ist keiner mehr von ihnen übrig. Während SOS MEDITERRANEE nach einer Reihe politischer und juristischer Angriffe vorübergehend den Einsatz im Mittelmeer beenden musste und aktuell auf der Suche nach einem neuen Schiff ist, kann die Sea Watch 3 Catania aus administrativen Gründen nicht verlassen. Am 31. Januar durfte das Schiff endlich 47 Überlebende an einem sicheren Ort an Land bringen, nachdem sie 13 Tage lang auf See ausharren mussten. Die spanische NGO Proactiva Open Arms hat immer noch keine Erlaubnis, Barcelona zu verlassen, ebenso das Schiff Aita Mari, das nicht aus dem Hafen von San Sebastian auslaufen darf, Mission Lifeline ist nach wie vor auf Malta blockiert…
Die Situation bleibt dramatisch, ihre Dokumentation unerlässlich.
Nach offiziellen Zahlen der UNO befanden sich im vergangenen Jahr mehr Menschen denn je weltweit auf der Flucht. [1] Die Internationale Organisation für Migration (IOM) hat seit Anfang dieses Jahres insgesamt 144 Todesfälle auf der zentralen Mittelmeerroute gemeldet. [2] Von all jenen, die ohne Zeugen auf See verschollen sind, wissen wir nichts. Und Augenzeugen sind in der Tat „unangenehm“ geworden. Sie werden nicht nur an der Rettung, sondern auch an der Zeugenschaft selbst gehindert. In einem neuen Bericht des Hochkommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge (UNHCR) heisst es, dass 2018 jeden Tag durchschnittlich sechs Menschen bei der Flucht über das Mittelmeers ihr Leben verloren haben. Darüber hinaus führte die Förderung der libyschen Küstenwache durch die EU dazu, dass 85 Prozent der Menschen, die von Libyen aus über das Mittelmeer flüchteten, an genau diesen Ort zurückgebracht wurden. [3] Diese Praktiken verstossen ganz klar gegen internationales Seerecht und die Menschenrechte, werden aber weiterhin von der Europäischen Union unterstützt und finanziert.
NGO-Rettungsschiffe sind zivile Beobachter auf dem Mittelmeer.
Es ist kein Zufall, dass NGOs daran gehindert werden, im Mittelmeer Hilfe zu leisten. Durch ihre Präsenz auf See sind humanitäre Such- und Rettungsschiffe das Bindeglied zwischen den Geschehnissen auf dem Meer und der Zivilgesellschaft an Land. SOS MEDITERRANEE wurde aus einem humanitären Vakuum heraus geboren, das die europäischen Staaten im zentralen Mittelmeer hinterlassen hatten. Von Anfang an waren wir fest entschlossen, die humanitäre Tragödie an Europas Grenzen bekannt zu machen, indem wir sachliche, überprüfte und transparente Informationen weitergaben, um das Bewusstsein der europäischen Gesellschaften darüber zu schärfen, was sich im Mittelmeer abspielt – damit wir uns niemals an die Schrecken gewöhnen sollten.
Während einzelne europäische Staaten nach wie vor NGOs am Helfen hindern und somit gegen das Völkerrecht verstossen, ist die direkte Information der Öffentlichkeit anhand von Erfahrungsberichten aus dem Mittelmeer ein Weg, um die sehr konkreten und oftmals tödlichen Folgen dieser Politik aufzuzeigen. Über vierzig Fotografen und Kommunikationsbeauftragte von SOS MEDITERRANEE und Ärzte ohne Grenzen (MSF) haben seit dem ersten Auslaufen unseres Rettungsschiffes im Februar 2016 Tag und Nacht gearbeitet. Sie schaffen eine Verknüpfung zwischen den Einsätzen auf See und unseren Geschäftsstellen in Berlin, Genf, Marseille und Palermo: Sie sammeln Zeugnisse, dokumentieren den Einsatz über die sozialen Netzwerke und stellen Materialien für Pressemitteilungen zur Verfügung. Unsere Kommunikationsbeauftragten begleiten und unterstützen auch die Journalisten an Bord während ihres gesamten Aufenthalts.
Über 170 Journalisten waren an Bord der Aquarius.
Während der zweieinhalbjährigen Mission mit unserem ehemaligen Rettungsschiff, der Aquarius, sind mehr als 170 internationale Journalisten an Bord gegangen. Vom ersten Tag an beherbergte das Schiff bis zu vier Journalisten pro Einsatz, die in Print, Funk und Fernsehen darüber berichteten. Auch sie waren Zeugen einer Katastrophe, die – per Definition – weit weg von den Augen der Allgemeinheit war, nämlich auf hoher See an den europäischen Aussengrenzen. Sie konnten Informationen sammeln auf der Schiffsbrücke [4], an Bord unserer Rettungsboote, an Deck mit den Teams und Überlebenden und, wenn möglich, in der Klinik und im Schutzraum für Frauen und Kinder [5].
An Bord der Aquarius wurden Hunderte von Artikeln, Porträts, Berichten, Dokumentationen und sogar zwei Comics [6] produziert. Sie dokumentieren die Momente der Vorbereitung und des Trainings unserer Besatzung, die Such- und Rettungseinsätze sowie den Austausch zwischen dem Schiff und den Seebehörden. Sie setzen Gesten, Emotionen, das Leben und den Tod in Worte und Bilder. Sie erheben die Stimmen derer, die die libysche Hölle überlebt und das Mittelmeer überquert haben, ebenso wie die Stimmen unserer Besatzung, der Ärzte und Ärztinnen, Hebammen, Retter, Krankenschwestern und Pfleger, die so viel gesehen und gehört haben. Um nachzuvollziehen, wer und warum sich auf See begibt und dies auch den Menschen in Europa begreifbar zu machen.
„[Meine] Rolle als Beobachter musste sich der extremen Notlage beugen.“ [7]
An Bord der Aquarius haben alle Journalisten den Erste-Hilfe-Kurs mitgemacht. In extremen Notfällen wie Rettungen, bei denen sich zum Beispiel viele Menschen im Wasser befanden, Fällen von Unterkühlung oder Herzstillstand, ist unsere Besatzung auf jede zusätzliche Hilfe angewiesen. Journalisten werden dabei manchmal von Beobachtern zu Helfern.
„Ich will nicht, dass jemand sieht, was ich gesehen habe“. In seiner an Bord der Aquarius produzierten Reportage „Mare Amarum“ schildert der Fotojournalist Stefano De Luigi den 27. Januar 2018, eine der schwierigsten Rettungen, die unsere Teams je zu bewältigen hatten. [8] Der französischen Zeitschrift Télérama sagte er später: „Wenn man so wie ich regelmässig in den Kriegsgebieten der Welt unterwegs ist, bereitet man sich darauf vor, Gewalt und Tod zu begegnen. Wenn dies der Fall ist – sei es in Bosnien, im Libanon oder in der Elfenbeinküste – tritt der Fotograf einen Schritt zurück. Bietet Raum für diejenigen, die eingreifen müssen und verrichtet dabei weiterhin seine Arbeit als Zeuge der Situation. Auf See, wenn man sich auf der Aquarius befindet und damit konfrontiert wird… kann man nicht zurücktreten. Du legst die Kamera hin und handelst. Auch wenn man weder darauf vorbereitet ist, noch das Ausbildungsniveau der eigentlichen Retter hat.“ [9]
Die Blockade von Rettungsschiffen soll die Zivilgesellschaft zum Wegschauen zwingen.
In den letzten zwei Jahren sind zivile Rettungsschiffe und die Journalisten und Journalistinnen, die ihre Einsätze begleitet haben, zu lästigen Zeugen einer europäischen Politik geworden, die darauf abzielt, die „Krise“ der Migration ausser Sichtweite zu halten und das Sterben auf dem Mittelmeer zu verschleiern. Die Kriminalisierung und Blockade von zivilen Rettungsschiffen dient genau diesem Zweck und verurteilt dabei zugleich Tausende, Hunderttausende von Menschen zum Tode oder zur Zwangsrückführung nach Libyen und in dortige Foltergefängnisse. Es ist ein Versuch, diese dramatische Situation für uns in Europa unsichtbar zu machen. Ohne Journalisten, ohne Zivilgesellschaft, ohne Worte oder Bilder ist der derzeitige Mangel an Rettungsschiffen vor der nordafrikanischen Küste schwerer zu dokumentieren. Die verschollenen Personen sind schwieriger zu identifizieren. Die Geschichten der Flüchtenden, deren Beweggründe und Hoffnungen, verstummen.
Das darf nicht geschehen. SOS MEDITERRANEE unternimmt deswegen weiterhin alle Anstrengungen, um so schnell wie möglich auf See zurückzukehren. Um weiterhin Leben zu retten, um weiterhin Augenzeugen an Bord willkommen zu heissen und um den Blick nicht vom Mittelmeer und den dortigen Schicksalen abzuwenden. Seenotrettung ist kein Verbrechen, sondern Pflicht!
[1] https://www.uno-fluechtlingshilfe.de/fluechtlinge/zahlen-fakten/
[2] https://missingmigrants.iom.int/region/mediterranean?migrant_route%5B%5D=1376
[3] Download “Desperate Journeys: Refugees and migrants arriving in Europe and at Europe’s borders”, UNHCR, January 2019.
[4] Ort an Bord eines Schiffes, von dem aus der Kapitän bzw. die Kapitänin in Zusammenarbeit mit dem SOS MEDITERRANEE-Einsatzleiter und den zuständigen Seebehörden operative Entscheidungen trifft.
[5] Schutzraum für Frauen und Kinder an Bord der Aquarius.
[6] Comics “A bord de l’Aquarius” : un récit en images inédit“, 16/01/2019 und Liebe Deinen Nächsten, 18/09/2017.
[7] „Regardez ‚Mare amarum‘: le regard pudique d’un photographe à bord de l’Aquarius, Télérama, 06/12/2018.
[8] “Mare amarum – Ein Fotograf auf dem Flüchtlingsboot Aquarius”, Arte 2018.
[9] „Regardez ‚Mare amarum‘: le regard pudique d’un photographe à bord de l’Aquarius, Télérama, 06/12/2018.
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Photo credits: Federica Mameli / SOS MEDITERRANEE