Logbuch

[STIMMEN DER GERETTETEN] „Die Kinder sind jeden Tag mit dem Klang von Schüssen aufgewachsen.“

Mourad – aus Libyen, 48 Jahre alt, verheiratet, drei Kinder – wurde zusammen mit seiner Familie am 18. März 2021 von der Crew der Ocean Viking gerettet.

„Seit zehn Jahren gibt es in Libyen keine stabile Regierung mehr.

Wir haben immer gehofft, wir haben immer gehofft. Jedes Jahr sagten wir uns, es würde besser werden, aber es gibt keine Sicherheit, und es wird jeden Tag schlimmer. Auch für die Kinder ist das Umfeld nicht gut. Für sie gibt es keine Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Für sie hat das Leben aufgehört.

Ich komme aus Zuwara. Das ist eine kleine Stadt an der Küste. Meine Familie gehört zu einer Minderheit der Amazigh. (…) Wir sind eine kleine, isolierte Gemeinschaft. Der grösste Teil der Amazigh-Gemeinschaft lebt im Süden, in den Bergen. Wir sind misshandelt worden; unser Eigentum wurde gestohlen. Unser Land wurde verbrannt; wir haben nichts mehr.

Wir sind ursprünglich aus diesem Land, aber wir werden wie Eindringlinge behandelt oder wie Leute, die gerade erst ins Land gekommen sind.
Das war schon immer so. Aber früher gab es wenigstens eine Regierung, jetzt gibt es keine Regierung, und es ist noch schlimmer geworden. Wir besitzen etwas Land 18 km südlich von Zuwara. Seit zehn Jahren konnten wir nicht mehr dorthin gehen.

Wir haben unsere Kindheit auf diesem Land verbracht und wir würden es zumindest gerne sehen. Aber wir können nicht mehr dorthin gehen, weil wir Entführungen, Angriffe, Raubüberfälle und alle Arten von Gewalt riskieren.

Überall sind Waffen, weil sie überall gekauft und verkauft werden können. Jeder hat welche. Sie sind im freien Umlauf. Überall. Sobald es ein Problem gibt, kommen die Waffen zum Vorschein. Es ist überall das Gleiche. Sobald es einen Kampf gibt, kommen die Waffen raus. Wenn man auf die Strasse geht, riskiert man erschossen zu werden. Man fährt mit dem Auto und wird erschossen. Es kann überall und jederzeit passieren.

Tote, Verletzte… sind Alltag. Jeden Tag, jeden Tag, jeden Tag. So ist es jeden Tag, seit zehn Jahren. Es gibt keine Hoffnung auf Stabilität. Ich denke, es wird weitere zehn Jahre dauern, bis ich wieder ein normales Leben führen kann.

Meine Kinder sind 13, 10 und 9 Jahre alt. Zwei von ihnen wurden während der Revolution geboren. Das ältere war damals erst drei Jahre alt. Es kannte auch nur Gewalt. Die Kinder sind jeden Tag mit dem Klang von Schüssen aufgewachsen.

Wir haben so hart gearbeitet, um ihnen eine stabile und friedliche Umgebung zu bieten. Wir haben versucht, Bastelarbeiten für sie zu finden, um sie jeden Tag zu beschäftigen. Wir haben für Privatschulen bezahlt, damit sie mehr Ruhe haben. Im Sommer fuhren wir mit ihnen an den Strand, damit sie den Alltag und die Gewalt vergessen können.

Ich bin Lehrer für Sozialwissenschaften. Nachdem ich entlassen wurde, erhielt ich ein kleines staatliches Gehalt als Beamter. Vor fünf Jahren eröffnete ich eine kleine Pizzeria in meinem Viertel. Vor einem Jahr bin ich gestürzt und habe mich an der Schulter verletzt. Ich lebe von einer staatlichen Rente, die nicht ausreicht, um meine Kinder zu ernähren. Wir sind sehr müde. Es ist sehr schwierig, seine Kinder unter diesen Bedingungen grosszuziehen.

Wir mussten nach Europa gehen, um eine bessere Zukunft für unsere Kinder zu gewährleisten. Wenn wir in Europa ankommen, dann nur, um zu arbeiten. Nicht, um zu schlafen oder darauf zu warten, dass uns jemand hilft. Es ist, um unseren Kindern eine bessere Zukunft zu ermöglichen.“

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Text: Interview mit unserem Communication Officer an Bord der Ocean Viking
Übersetzung durch den Cultural Mediator an Bord der Ocean Viking
Fotonachweis: Anthony Jean / SOS MEDITERRANEE