Logbuch

[Hippolytes Tagebuch] Zurück im Einsatz mit der Ocean Viking!

Der Comic-Reporter Hippolyte begleitet uns bei unserem nächsten Einsatz im zentralen Mittelmeer. Seine Illustrationen und Geschichten über unsere Arbeit finden Sie regelmässig auf unserer Website. Mit seinen Zeichnungen und Worten erzählt er die Geschichte unserer bevorstehenden Rückkehr zur See. 

30. Dezember 2020. 

Fünf Monate sind vergangen, seit ich das letzte Mal auf der Ocean Viking war. Danach wurde sie am 22. Juli in Porto Empedocle, Sizilien, festgesetzt. Über 150 Tage war sie nicht im Einsatz. Fast ein halbes Jahr; ohne jemanden gerettet zu haben.  

Eine Ewigkeit.  

Fünf Monate, in denen das Rettungsschiff von italienischen Behörden im sizilianischen Hafen, festgehalten wurde, mit dem Vorwurf, es habe «zu viele Passagiere an Bord» genommen. 

Ein rhetorischer, tragischer Taschenspielertrick. 

Fünf Monate, in denen SOS MEDITERRANEE seine Rettungskapazitäten unter Beweis stellte, ohne jemals auf Konfrontation zu gehen, in einem Streben nach Tadellosigkeit, das seit seinen Anfängen gegen administrative Widrigkeiten und Gezeiten gehalten wird. 

Eine Priesterschaft. 

Fünf Monate lang wurden Gespräche mit der italienischen Küstenwache geführt und Anpassungen am Schiff vorgenommen. Die bereits vorhandene Notfallausrüstung wurde mit acht Rettungsinseln, die je 100 Personen aufnehmen können, sowie mit Rettungswesten und Überlebensanzügen ergänzt, für den Fall, dass die Ocean Viking selbst in Seenot geraten würde. 

All dies, damit die Ocean Viking wieder tun kann, was sie am besten kann: Leben retten.  

Fünf Monate hohe Kosten, die dank der Hilfe vieler Unterstützerinnen und Unterstützer und Freiwilligen von SOS MEDITERRANEE getragen werden konnten. 

Die Kraft der Hoffnung. 

Fünf Monate, in denen das Mittelmeer, die tödlichste Fluchtroute der Welt, von der Abwesenheit von Rettungsschiffen geprägt war. Die einzigen Ausnahmen: der kurze Einsatz der Louise Michel, die vom Künstler Banksy gechartert* wurde, und der Sea-Watch 4. Für kurze Zeit konnten sie die vollkommen aus dem Blick geratene Situation im Mittelmeer wieder ins Licht rücken.  

Bei jedem Rettungseinsatz werden innerhalb weniger Tage Hunderte von Menschen gerettet. Die Überlebenden zu zählen ist einfach, doch die Zahl der spurlos Verschwundenen zu kennen, ist unmöglich. Das Mittelmeer ist riesig und verschluckt eine Geschichte nach der anderen, wenn niemand vor Ort ist. Wie viele Menschen hätten die Ocean Viking und die anderen Schiffe retten können, wenn sie nicht blockiert worden wären? Niemand kann diese Frage beantworten und die Zahlen ergeben keinen Sinn. 

Geschichten gehören meistens den Lebenden, denn die Verschwundenen sprechen nicht. Sie haben keine Stimme mehr und niemand spricht für sie, wenn sie unsichtbar gemacht werden. 

Wie viele unbekannte Vermisste im Mittelmeer gibt es neben dem auf tragische Weise bekannt gewordenen Alan Kurdi (das Foto des leblosen Körpers dieses dreijährigen Kindes am Strand in der Türkei löste eine weltweite Schockwelle aus)? 

Die Ocean Viking wurde nun endlich von den italienischen Behörden freigelassen und kehrte am 27. Dezember nach Marseille zurück. Nur einen Steinwurf vom Hafen entfernt, sind die Crew und ich uns für zehn Tage in Quarantäne. Wir sind insgesamt 24 Personen, die einzeln auf 24 Zimmer verteilt sind und zwischen PCR-Tests und täglicher Temperaturnahme elektronisch miteinander kommunizieren. Wir warten darauf, ohne COVID-Risiko an Bord zu gehen und die neunköpfige Schiffsbesatzung auf der Ocean Viking zu treffen. 

Ich bin wieder auf einige Freunde getroffen, die ich im Sommer zurückgelassen hatteGavino, Mat›, Julia und Luisa, die mit dem Rest der SOS MEDITERRANEE-Teams während dieser fünf Monate unermüdlich gearbeitet haben. Die Quarantäne nutzen wir, um alle internationalen Teammitglieder kennenzulernen und uns so gut wie möglich auf den Einsatz vorzubereiten. Während wir in Quarantäne auf unseren Einsatz warten, verschwinden wie in den letzten Monaten täglich Männer, Frauen und Kinder in den Tiefen des Meeres. Wir werden in den nächsten zwei Wochen einige von ihnen treffen: In Not – inmitten eines Meeres. Ein paar Geschichten, Hoffnungen, die inmitten von Tausenden von anderen auftauchen, auf dem Grund jeder Welle. Die Zeit wird knapp. Das Meer ist jeden Tag voller Geschichten.