[MEDIENMITTEILUNG] Solidarität darf auch in der Corona-Krise nicht an der Küste Halt machen

SOS MEDITERRANEE will die lebensrettenden Einsätze mit dem Schiff Ocean Viking so schnell wie möglich wieder aufnehmen – unabhängig vom angekündigten Rückzug des medizinischen Partners zum Sommer

Die Such- und Rettungsorganisation SOS MEDITERRANEE beobachtet seit Beginn des weltweiten Ausbruchs der Infektionskrankheit COVID-19 mit grosser Sorge, wie es zu Schwierigkeiten im maritimen Sektor und zu unvorhersehbaren Reaktionen europäischer Staaten kommt. Vor kurzem haben politische Entwicklungen die andauernde humanitäre Krise im zentralen Mittelmeer verschärft und Risiken aufgezeigt, denen sowohl die Besatzungen, die Rettungseinsätze durchführen, als auch die Überlebenden ausgesetzt sind. SOS MEDITERRANEE beschloss, das Rettungsschiff Ocean Viking vorübergehend im Hafen von Marseille vor Anker zu legen, während die Organisation daran arbeitet, die Rettungseinsätze in der gegenwärtigen COVID-19-Krise sicher und verantwortungsvoll wieder aufnehmen zu können.

Unsere lebensrettenden Einsätze basieren auf internationalem Seerecht. Such- und Rettungseinsätze auf See sollten weltweit mit staatlicher Unterstützung und Koordination durchgeführt werden. Im zentralen Mittelmeer füllen zivile Rettungsschiffe bereits eine Lücke, die von den Staaten bei der Durchführung von Such- und Rettungseinsätzen hinterlassen wurde. Mehrere europäische Staaten haben formell erklärt, dass sie nicht in der Lage seien, einen sicheren Ort bereitzustellen oder bei der Ausschiffung von auf See geretteten Personen zu helfen. Wir sind uns bewusst, vor welchen Herausforderungen zurzeit vor allem Italien und Malta stehen. Doch darf der Schutz der öffentlichen Gesundheit an Land nicht auf Kosten von lebensrettenden Massnahmen auf See gehen. Dies ist umso wichtiger, da sich auch in Libyen die Lage weiter zuspitzt. Neben dem eskalierenden Bürgerkrieg und den unmenschlichen Lebensbedingungen in den Lagern stellt auch der Ausbruch von COVID-19 eine weitere Bedrohung für die Sicherheit der Zivilbevölkerung, von Migrant*innen und Flüchtenden im andauernden Konflikt dar. Vielen bleibt keine andere Wahl als die riskante Flucht über das Mittelmeer.

Allein am vergangenen Osterwochenende sind im zentralen Mittelmeer mehr als 1.000 Menschen an Bord von nicht seetüchtigen Booten aus Libyen geflohen. Hunderte wurden abgefangen und gewaltsam nach Libyen zurückgebracht, mindestens fünf Menschen sind gestorben und sieben werden vermisst. Die international anerkannte libysche Einheitsregierung mit Sitz in Tripolis erklärte inzwischen ihre eigenen Häfen aufgrund des anhaltenden Beschusses für unsicher. Tagelang zeigte sich trotz eindeutiger rechtlicher Verpflichtung kein europäischer Staat bereit die Menschen in Seenot zu retten. Die humanitäre Katastrophe im Mittelmeer hört nicht auf, weil es die Corona-Krise gibt. Im Gegenteil, die Corona-Krise zeigt noch deutlicher als zuvor, dass Europa solidarisch und koordiniert handeln muss – auch auf dem Mittelmeer. Die mediterranen Küstenstaaten dürfen nicht allein gelassen werden. Wir brauchen umgehend angemessene Regelungen, die sowohl die öffentliche Gesundheit als auch eine rasche Anlandung von geretteten Menschen an einen sicheren Ort gewährleisten.

Vor diesem Hintergrund befindet sich SOS MEDITERRANEE in einem schweren Dilemma: In Libyen fliehen Menschen weiterhin vor Folter und Menschenhandel und sie laufen weiterhin Gefahr, im zentralen Mittelmeer zu ertrinken. Gleichzeitig ist das Risiko enorm hoch, die geretteten Menschen nicht an einen sicheren Ort bringen und auch die Sicherheit unserer Besatzung und Überlebenden an Bord nicht gewährleisten zu können. Deshalb hat SOS MEDITERRANEE sich dazu entschieden, den Rettungseinsatz vorübergehend auszusetzen, bis die Umstände die sichere Durchführung unserer Arbeit wieder zulassen. Unser langjähriger medizinischer Partner Ärzte ohne Grenzen verfolgt hierbei einen anderen Ansatz, was wir respektieren. Wir bedauern allerdings sehr, dass Ärzte ohne Grenzen uns in der letzten Woche mitgeteilt hat, sich aufgrund dieser unterschiedlichen Einschätzung der gegenwärtigen Situation bis Ende Juli aus unserer Partnerschaft zurückzuziehen. SOS MEDITERRANEE erkennt diese Entscheidung an, die aufgrund der bemerkenswerten Zusammenarbeit, die unsere beiden Organisationen an Bord der Aquarius und der Ocean Viking erlebt haben, eine traurige Entscheidung für unsere Teams ist, die das Äusserste tun, um so viele Leben wie möglich zu retten. Als Rettungsorganisation können wir Ärzte ohne Grenzen für ihr Engagement bei Rettungseinsätzen an unserer Seite in den letzten vier Jahren sowie für die professionelle medizinische Hilfe, die sie Tausenden von Überlebenden auf See geleistet haben, nur loben. Wir wissen, dass zahlreiche humanitäre und medizinische Krisen auf der ganzen Welt von der Hilfe von Ärzte ohne Grenzen profitieren werden.

Für SOS MEDITERRANEE geht die Seenotrettung ungeachtet dieser Veränderung weiter, sobald die Ausschiffung von Geretteten an sichere Häfen wieder möglich ist. “Die Ocean Viking ist einsatzbereit. Wir treiben nun mit den europäischen Staaten auf allen Ebenen  einen dringenden Dialog voran, um alle möglichen, rechtmässigen und innovativen Szenarien zu unterstützen, damit wir so schnell wie möglich wieder rausfahren können. Es ist unsere Pflicht als Bürger*innen, Schweizer*innen und Seeleute, den Frauen, Kindern und Männern, die aus Libyen über das Mittelmeer fliehen, zu helfen, sie haben sonst kaum Überlebenschancen”, erklärt Caroline Abu Sa’Da, Geschäftsführerin von SOS MEDITERRANEE Schweiz.

 

Dick Marty :

Vorstandsmitglied von SOS MEDITERRANEE Schweiz, ehemaliger Staatsanwalt des Kantons Tessin

Angesichts der sich verändernden Situation in den verschiedenen Ländern Europas und unter Berücksichtigung der Dutzenden von Kreuzfahrtschiffen, die mit teilweise tausend Menschen an Bord auf See blockiert sind, wäre die Rückkehr ins zentrale Mittelmeer ohne eine gründlichere Analyse der Gesundheitsrisiken sowie ob es möglich wäre, Gerettete an einem sicheren Ort an Land zu bringen, eine Sackgasse gewesen. SOS MEDITERRANEE nahm sich die Zeit, die Situation in dieser sehr komplizierten Zeit zu analysieren, und wollte nicht riskieren sich in die Lage zu begeben, in der es sich die Einfahrt in einen Hafen, bzw. Territorialgewässer erzwingen muss. Wir müssen die Verhandlungen jetzt fortsetzen und den besten Kompromiss finden, um so bald wie möglich unseren Einsatz im Mittelmeer wieder aufnehmen zu können.