[PRESSEMITTEILUNG] Dramatischer Rettungseinsatz: 588 Menschen auf der Aquarius in Sicherheit – Libysche Küstenwache fängt Schlauchboote in internationalen Gewässern ab

Innerhalb von 18 Stunden hat die europäische Seenotrettungsorganisation SOS MEDITERRANEE 588 Menschen sicher an Bord des gemeinsam mit Médecins Sans Frontières (MSF) betriebenen Rettungsschiffes Aquarius gebracht. Neben insgesamt vier Rettungseinsätzen wurde das Team der Aquarius außerdem Zeuge, wie die libysche Küstenwache zwei Schlauchboote aus internationalen Gewässern zurück nach Libyen gebracht hat.

Libysche Küstenwache fängt Schlauchboote in internationalen Gewässern ab

Bereits am Dienstagmorgen wurden die zivilen Seenotretter*innen von SOS MEDITERRANEE durch die italienische Seenotleitstelle MRCC Rom zu zwei in internationalen Gewässern in Seenot geratenen Schlauchbooten gerufen. Auf dem Weg zum Einsatzort circa 30 nautische Meilen vor der libyschen Küste wies das MRCC SOS MEDITERRANEE dazu an, sich mit ausreichend Sicherheitsabstand bereit zu halten, da die libysche Küstenwache die Koordination der Rettung inzwischen übernommen habe. Das Team der Aquarius musste beobachten, wie die Einheit der libyschen Küstenwache die beiden Schlauchboote mit circa 200 Menschen abfing und aus internationalen Gewässern zurück nach Libyen schleppte. Auch zwei Einheiten der europäischen Militäroperation EUNAVFOR MED beobachtete den Zwischenfall.

Mittwochmorgen übernahm die Aquarius dann auf Anweisungen des MRCC Rom 248 Flüchtlinge vom Schiff „Diciotti“ der italienischen Küstenwache, bevor sie zur Rettung von über 100 Flüchtenden in einem Schlauchboot 35 Seemeilen vor der libyschen Küste gerufen wurde. Alle Personen konnten sicher an Bord der Aquarius gebracht werden und befanden sich den Umständen entsprechend in guter körperlicher Verfassung.

Dramatische Rettung: Panik auf Schlauchboot // Mann wird an Bord wiederbelebt

Mittwochmittag erfolgte die zweite Rettung eines Schlauchbootes, welches die Aquarius unmittelbar nach der vorangegangenen Rettung sichtete. Noch bevor das SOS MEDITERRANEE Team die Rettungswesten verteilen konnte, brach das Heck des Bootes, es begann zu sinken und mehrere Dutzend Menschen sprangen vor Panik ins Wasser. Umgehend wurden alle verfügbaren Rettungsinseln und Schwimmwesten ins Wasser gelassen. Dem Aquarius Team gelang es unter Anstrengung aller Kräfte, 200 Menschen aus dem Wasser zu ziehen und sicher an Bord der Aquarius zu bringen. Eine Person wurde leblos geborgen und konnte noch an Bord des Schnellbootes erfolgreich wiederbelebt werden. Sie wurde wenig später per Helikopter evakuiert und zur weiteren Versorgung nach Italien gebracht.

Madeleine Habib, Rettungskoordinatorin von SOS MEDITERRANEE, dazu: „Am Mittwoch hat die Aquarius vier Einsätze in 18 Stunden durchgeführt: ein Transfer und drei Rettungen. 588 Menschen wurden in Sicherheit gebracht. Eine Rettung war besonders dramatisch. Gestern haben wir wieder Boote von unglaublich schlechter Qualität gesehen, die Flüchtlinge trugen wie meist keine Rettungswesten. Zuerst retteten wir 108 Personen von einem Schlauchboot und bereiteten uns dann auf die Rettung eines zweiten Schlauchboots vor. Bevor unser RHIB ankam, fingen die Leute an zu springen und das Boot brach auseinander. Wir haben Flotationsgeräte ins Wasser gelassen und die Lage stabilisiert. Die Aquarius-Teams haben in dieser sehr komplexen Situation enorme Professionalität gezeigt. Obwohl wir alles taten, was wir konnten, können wir niemals sicher sein, dass wirklich alle gerettet wurden„.

Eine algerische Familie, die sich auf dem sinkenden Boot befand, gab an: “Die Menschen hatten Angst, einige sind aufgestanden, woraufhin das Boot gebrochen ist.” Außer ihnen befanden sich noch eine syrische Familie und Geflüchtete aus Subsahara-Afrika an Bord des Schlauchboots.

Kurz darauf erfolgte eine dritte Rettung, diesmal 40 nautische Meilen vor der libyschen Küste. Wieder war ein Schlauchboot in Seenot geraten. Alle Personen konnten geborgen und an Bord versorgt werden. Auf Anweisung des MRCC Rom befindet sich die Aquarius momentan auf dem Weg nach Italien, wo die Überlebenden an einen sicheren Hafen gebracht werden.

Gerettete berichten von menschenunwürdige Zustände in Libyen

Auch diesmal berichteten die Geretteten von den menschenunwürdigen Bedingungen in Libyen. Ferary, ein 27-jähriger Nigerianer, der eigenen Aussagen zufolge drei Monate in Libyen verbracht hatte, bevor er von SOS MEDITERRANEE gerettet wurde, berichtete, dass einer seiner Freunde vor seinen Augen getötet wurde: „Nur, weil er schwarz war. In Libyen hassen sie schwarze Menschen, sie behandeln sie schlechter als Tiere.“ Nur weil er sich versteckte, konnte er den berüchtigten libyschen Internierungslagern entkommen.

Der Winter setzt ein und die die letzten zwei Tage bestätigen, dass die humanitäre Tragödie im zentralen Mittelmeer weitergeht. Innerhalb weniger Stunden hat die libysche Küstenwache hunderte von Menschen in die libysche Hölle zurückgebracht. Andere wurden von den Teams von SOS MEDITERRANEE und Ärzte ohne Grenzen unter extrem schwierigen Bedingungen aus einem sinkenden Boot gerettet. Wir erleben die verzweifelte Flucht von Frauen, Männern und Kindern, die keine andere Wahl haben, als das libysche Chaos über ein gnadenloses Meer zu verlassen. Die Rettungsbedingungen werden immer komplexer und solange keine ausreichenden institutionellen Rettungskapazitäten im Mittelmeer vorhanden sind, wird SOS MEDITERRANEE seinen Einsatz fortsetzen“, erklärte Caroline Abu Sa’Da, Geschäftsführerin von SOS MEDITERRANEE Schweiz.

SOS MEDITERRANEE macht seit Einsatzbeginn im Februar 2016 immer wieder auf die desaströse Lage für Flüchtende in Libyen aufmerksam. Die Organisation hat zum wiederholten Male die europäischen Mitgliedsstaaten, allen voran die Bundesregierung, dazu aufgerufen, sich öffentlich zum Verhalten der libyschen Küstenwache zu positionieren und deutlich zu machen, dass ihr gefährdendes Verhalten in eklatantem Widerspruch zum europäischen Wertekanon und zu einschlägigen Flüchtlings- und Menschenrechts­konventionen steht. Jegliche direkte oder indirekte Unterstützung der libyschen Küstenwache durch europäische oder italienische Behörden trägt zur Gefährdung von Menschenleben bei.