
[MEDIENMITTEILUNG] Ein entscheidender Wendepunkt für die Seenotrettung im Mittelmeer?
15 Monate nach der Schliessung der italienischen Häfen müssen die europäischen Staaten – und damit auch die Schweiz – wieder einen rechtlichen und koordinierten Rahmen für Rettungseinsätze schaffen.
Heute legten sechs Mitglieder des Nationalrats (Kurt Fluri/FDP, Carlo Sommaruga/SP, Lisa Mazzone/Grüne, Guillaume Barrazone/CVP, Rosmarie Quadranti/BDP und Beat Flach/GLP) dem Parlament die Motion «Humanitäre Notlage im Mittelmeer: Die Schweiz soll sich am Verteilungsmechanismus der ‚Koalition der Willigen‘ beteiligen» vor. Dies drei Tage nachdem die italienischen Behörden der Ocean Viking Lampedusa als sicheren Hafen für die in zwei Rettungseinsätzen geretteten 82 Personen zugewiesen hatten. Die Ocean Viking ist das erste humanitäre Rettungsschiff, dem seit der Schliessung der italienischen Häfen vor 15 Monaten erlaubt wurde, Gerettete in Italien an Land gehen zu lassen.
SOS MEDITERRANEE betont die Bedeutung dieser positiven Entwicklung und fordert die europäischen Staaten nachdrücklich auf, eine neue Ära der Such- und Rettungseinsätze im zentralen Mittelmeer einzuleiten.
Es braucht einen nachhaltigen und koordinierten Mechanismus zur Anlandung
Während ihrer ersten Rettungsmission im August musste die Ocean Viking – das von SOS MEDITERRANEE gecharterte Rettungsschiff – 14 Tage warten, bis eine europäische Lösung für die Anlandung der 355 Geretteten in Malta gefunden wurde. Während der zweiten Mission mussten die 82 Geretteten 6 Tage auf See ausharren.
«Jeder Tag, an dem unser Rettungsschiff auf See blockiert ist, ist ein Tag zu viel», sagt Caroline Abu Sa’Da, Geschäftsführerin von SOS MEDITERRANEE Schweiz. «Seit 15 Monaten wird von Fall zu Fall entschieden. Dies kann nicht so weitergehen. Wir erwarten von den Staaten des europäischen Kontinents, die am 23. September in Malta zusammentreffen, dass sie einen koordinierten, vorhersehbaren und nachhaltigen Mechanismus zur Anlandung von aus Seenot Geretteten einrichten. Auch die Schweiz spielt dabei eine Rolle. Wie andere europäische Staaten ist sie Teil des Schengen-Raums und finanziert Frontex mit. Sie könnte nun Solidarität mit anderen Staaten zeigen und sich am Verteilungsmechanismus beteiligen. Dies hat die heute eingereichte Motion gezeigt, die von einer grossen Mehrheit der Parteien unterstützt wird. Die Schweiz würde so ihrer humanitären Tradition gerecht werden und uns helfen, Leben auf See zu retten», so Caroline Abu Sa’Da.
15 Monate Chaos im zentralen Mittelmeer
Während ihrer ersten beiden Rettungsmissionen im Jahr 2019, sowie im August und September 2018, haben die Teams von SOS MEDITERRANEE wiederholt festgestellt, dass die libysche Küstenwache ihrer Verantwortung im Zusammenhang mit der Koordinierung von Rettungen im zentralen Mittelmeer nicht nachkommt. Diese Verantwortung wurde ihr im Juni 2018 in Folge des Abzugs der italienischen Küstenwache und eines Abkommens mit den europäischen Staaten von der Internationalen Seeschifffahrtsorganisation zugeteilt. Die libysche Küstenwache hat weder naheliegende Rettungsschiffe über in Seenot geratene Boote informiert noch auf Berichte der Ocean Viking reagiert. Nach Abschluss der Rettungseinsätze wurde der Ocean Viking stets ein Hafen in Libyen für die Anlandung der Geretteten zugewiesen. Dies widerspricht jedoch dem See- und Völkerrecht, da Libyen nicht als sicherer Ort angesehen werden kann.
Die Ocean Viking und ihr Team bedauern ebenfalls die fehlende Kooperation der europäischen Mission. Deren Flugzeuge EUNAVFOR MED leiteten weder Rettungsnotrufe an NGOs, die sich in der Region befinden, weiter, noch antworteten sie der Ocean Viking, als diese versuchte, Kontakt herzustellen. Die Schiffe der Operation Sophia wurden des Weiteren aus dem Rettungsgebiet abgezogen.
Die Kriminalisierung von Rettungsorganisationen geht weiter: So ist die Ocean Viking derzeit das einzige humanitäre Rettungsschiff in der Such- und Rettungszone vor der libyschen Küste, während die meisten NGO-Schiffe beschlagnahmt wurden. Auch NGO-Flugzeuge werden regelmässig an Land festgehalten und daran gehindert, bei der Suche nach Booten in Seenot mitzuhelfen.
Europäische Solidarität als Grundpfeiler der Rettungen im zentralen Mittelmeer
Die koordinierte Lösung am vergangenen Wochenende hat Italien zurück an den Verhandlungstisch gebracht. Diese erste Geste Italiens ist ein ermutigendes Zeichen für ein koordiniertes europäisches System, von dem die Schweiz Teil sein sollte.
«Angesichts der gravierenden Verschlechterung der Lage im zentralen Mittelmeer ist es notwendig, die Solidarität wiederzubeleben und dafür zu sorgen, dass die Kriminalisierung der NGOs gestoppt wird. Es ist von entscheidender Bedeutung, dass die Staaten des europäischen Kontinents den Rahmen wiederherstellen, der eine effiziente Koordinierung von Rettungseinsätzen ermöglicht», betont Caroline Abu Sa’Da. «Sie müssen ebenfalls so schnell wie möglich Ressourcen im Mittelmeer zur Verfügung stellen, damit Such- und Rettungsmissionen durchgeführt werden können und die anhaltende humanitäre Katastrophe im Mittelmeer ein Ende findet. Mindestens 900 Personen haben seit Anfang des Jahres im Mittelmeer bereits ihr Leben verloren, während laut UNHCR mindestens 6000 Menschen von der libyschen Küstenwache abgefangen wurden.»
Für Rückfragen kontaktieren Sie bitte:
Eva OSTENDARP | +41 76 239 99 13 | e.ostendarp@sosmediterranee.org
Foto : Laurence Bondard / SOS MEDITERRANEE