[PRESSEMITTEILUNG] Situation in Libyen „schwere Last auf dem Gewissen der Menschheit“

In 20 Monaten Einsatz hat die europäische NGO SOS MEDITERRANEE, die gemeinsam mit Ärzte ohne Grenzen (MSF) im Mittelmeer das Rettungsschiff Aquarius betreibt, 24.388 Menschen vor dem Ertrinken bewahrt. Die Teams von SOS MEDITERRANEE sind unmittelbare Zeugen der Situation in Libyen, vor der die Menschen fliehen und die der UN-Hochkommissar für Menschenrechte Zeid erst kürzlich als „schwere Last auf dem Gewissen der Menschheit“ bezeichnet hat.

Seit Beginn des Rettungseinsatzes im Februar 2016 weist SOS MEDITERRANEE die europäische Zivilgesellschaft, Medien und Politiker*innen immer wieder auf die erschreckenden Aussagen von Überlebenden hin, die aus Libyen geflohen sind und vor den Toren Europas um ihr Leben kämpfen.

Wir dachten, dass diese Frauen, Männer und Kinder, die auf See gerettet wurden, uns über das schreckliche Trauma der Überfahrt erzählen würden, über die unvorstellbaren Bedingungen, unter denen sie auf die Boote gelangen und die für den Einsatz auf hoher See komplett ungeeignet sind. Stattdessen haben sie vor allem von der ‚libyschen Hölle‘ gesprochen: Von Entführungen, Vergewaltigungen, Erpressung unter Folter, von Misshandlung und Demütigung, Zwangsarbeit und Sklaverei, deren Opfer sie auf der anderen Seite des Mittelmeers wurden„, sagte Caroline Abu Sa’Da, Geschäftsführerin von SOS MEDITERRANEE Schweiz.

Die Aussagen von Überlebenden, die SOS MEDITERRANEE an Bord der Aquarius gesammelt hat und die von den ärztlichen Untersuchungen durch Ärzte ohne Grenzen bestätigt werden, lassen keinen Zweifel am Ausmaß der Gewalt zu, dem Flüchtende in Libyen ausgesetzt sind:

Folter – « Ausgepeitscht werden wir morgens, mittags und abends. Es ist unser tägliches Brot. Die Libyer haben uns grundlos geschlagen. Ohne Angaben von Gründen haben sie uns ins Gefängnis gebracht. Die Gefängniswärter töten Menschen und sie werfen sie in ein Loch. Sie verschließen das Loch erst, wenn es komplett mit Körpern gefüllt ist. » (M., Kamerun, Zeugenaussage an Bord der Aquarius im August 2017)

Vergewaltigung – « Es gab Mädchen, die noch jünger waren als ich. Sie vergewaltigten sie vor unseren Augen; wir mussten dabei zusehen. Ihre Väter und Brüder waren auch da. Die mussten das auch mit ansehen. Diejenigen, die es verhindern wollten, wurden direkt vor Ort getötet. » (Y., 17 Jahre, Gambia, Zeugenaussage an Bord der Aquarius im November 2016)

Sklaverei – « In Libyen kommen arabische Männer in die Gefängnisse, um Schwarze zum Arbeiten zu kaufen. Sie verkaufen Schwarze für tausend Dinar. » (C., 20, Nigeria, Zeugenaussage an Bord der Aquarius im Februar 2017)

Massengräber – « Ich wurde dazu gezwungen, die Leichen von anderen Migranten aufzusammeln. Sie wurden in Massengräber gelegt, manchmal war auch nur noch der Kopf übrig. In jüngster Zeit gab es auch Leichen schwangerer Frauen. » (L., Gambia, 20 Jahre, Zeugenaussage an Bord der Aquarius, 31. August 2017)

Unsicherheit – « Die Welt muss wissen, was in Libyen passiert, die Situation ist dramatisch. Menschen werden grundlos getötet, und wenn nichts passiert, müssen noch mehr sterben. » (A. und Y., 25, Libyen, Zeugenaussage an Bord der Aquarius, 25. September 2017)

Push-backs – « Wenn die libysche Küstenwache uns auf der Überfahrt abfängt und uns zurück zur Küste bringt, sagen sie uns, dass sie uns in unsere Länder abschieben werden. Aber alles, was sie tun, ist, uns an jemand anderen zu verkaufen. » (C., 20, Nigeria, Zeugenaussage an Bord der Aquarius, 22. Februar 2017).

Ich wurde dreimal nach Libyen zurückgebracht. Das erste Mal wurde ich auf See abgefangen, verhaftet und für sechs Monate ins Gefängnis gebracht. Das zweite Mal wurde ich für einen Monat ins Gefängnis zurückgeschickt. Beim dritten Mal verhafteten mich die libysche Marine und die Polizei, und ich musste für drei Monate in Sabratha ins Gefängnis. (…) Wir waren in kleinen Zellen untergebracht, es waren bis zu 60 Leute in jeder von ihnen. Es gab keine Toiletten, wir mussten unsere Bedürfnisse direkt auf dem Boden erledigen. Dort, wo wir auch schliefen. Die Wärter stellten uns für etwa 20 Gefangene Essen hin. Sie schlugen mich mit elektrischen Kabeln. Um aus dem Gefängnis zu kommen, musste man bezahlen. Sie haben 480 € für meine Freiheit genommen. Die Preise sind je nach Person unterschiedlich. Es gibt keine Möglichkeit, in Libyen zu leben, es gibt keine Möglichkeit zu fliehen und auch keine Möglichkeit, in unsere Länder zurückzukehren.“ (B., Sierra Leone, Zeugenaussage an Bord der Aquarius 15. September 2017).

 

In den letzten zwölf Monaten hat SOS MEDITERRANEE immer wieder auf das Ausbleiben einer adäquaten Antwort seitens der Europäischen Union auf diese humanitäre Krise verwiesen und hat in diesem Zuge die europäischen Staats- und Regierungschefs dazu aufgefordert, ihre im Februar 2017 auf Malta getroffenen Absprachen zu überdenken.

SOS MEDITERRANEE erneuert seine Forderung, die Mittel zur Seenotrettung im zentralen Mittelmeer drastisch zu erhöhen. Nur so kann sichergestellt werden, dass gerettete Personen in Übereinstimmung mit internationalem Recht in einen sicheren Hafen gebracht werden, wo sie Schutz erhalten und wo ihre Menschenwürde geachtet wird. Außerdem muss die die Kriminalisierung von NGOs, deren einziger Zweck es ist, im Mittelmeer Leben zu retten, sofort beendet werden.

Vor den Toren Europas werden täglich die menschlichen Grundwerte in Frage gestellt. Darauf haben die europäischen Staats- und Regierungschefs bis heute keine adäquate Antwort gefunden. SOS MEDITERRANEE wird nicht akzeptieren, dass Menschen auf See sterben oder dass sie von der libyschen Küstenwache abgefangen und nach Libyen zurückgebracht werden. Der Einsatz der Aquarius im Mittelmeer ist wichtiger denn je, um die Überlebenden der libyschen Hölle zu retten, sie zu schützen und um weiterhin Zeugnis abzulegen von der Suche dieser Männer, Frauen und Kinder nach Schutz “ ergänzte Papke.