Das zentrale Mittelmeer – die tödlichste maritime Migrationsroute der Welt

Seit 2014 haben laut der Internationalen Organisation für Migration (IOM) mehr als 20.000 Menschen ihr Leben im Mittelmeer verloren, Dunkelziffer unbekannt.[1] Rund 81% davon starben im zentralen Mittelmeer, dem Meeresabschnitt zwischen Libyen und Italien und Einsatzgebiet von SOS MEDITERRANEE. Heute ist dieses die tödlichste maritime Migrationsroute der Welt. Dessen Überquerung ist in den letzten Jahren noch gefährlicher geworden, die Sterblichkeitsrate ist explodiert und die humanitäre Lage hat sich weiter zugespitzt. Die IOM schätzt, dass 2019 einer von 33 Menschen bei dem Versuch, das zentrale Mittelmeer zu überqueren, ums Leben gekommen ist, während es im Jahr 2017 einer von 51 war.

Dieser Anstieg der Sterblichkeitsrate ist vor allem auf den Mangel an staatlichen und zivilen Rettungskapazitäten im Mittelmeer zurückzuführen. Seit dem Ende des italienischen Seenotrettungsprogramms Mare Nostrum, welches in einem Jahr rund 150.000 Menschen aus Seenot rettete, gibt es keine staatlichen Programme mehr, die sich der Seenotrettung im Mittelmeer widmen (siehe unzureichende staatliche Seenotrettung). Seit 2017 sind auch zivile Rettungsorganisationen, die ihre Such- und Rettungsaktivitäten im zentralen Mittelmeer im Jahr 2015 aufgenommen haben, aufgrund administrativer und gerichtlicher Blockaden nur noch sporadisch im Einsatz. Darüber hinaus werden seit 2017 immer mehr Menschen völkerrechtswidrig von der libyschen Küstenwache auf See abgefangen und zurück nach Libyen gezwungen (siehe libysche Küstenwache).

 

Mangel an staatlichen Rettungskapazitäten

Die europäischen Staaten haben sich in den vergangenen Jahren fast vollständig aus der Seenotrettung zurückgezogen. Seit dem Ende des italienischen Seenotrettungsprogramms Mare Nostrum im Jahr 2014 gab es keine nennenswerten staatlichen Bemühungen mehr, dem Sterben auf dem Mittelmeer ein Ende zu setzen. Diverse EU-Operationen konzentrierten sich mit verkleinertem Einsatzgebiet vor allem auf die Sicherung der Aussengrenzen und Schlepperbekämpfung. Die EU betreibt keine eigenständigen Such- und Rettungsmissionen. SOS MEDITERRANEE hat die europäischen Staaten, inklusive Schweiz, wiederholt aufgefordert, ein wirksames und ausreichendes Rettungssystem im Mittelmeer einzurichten, um Menschen in Seenot zu helfen.

 

Aufbau der libyschen Küstenwache

Bereits im Februar 2017 einigte sich der Europäische Rat, 200 Millionen Euro für die Finanzierung, Ausbildung und Ausrüstung der libyschen Küstenwache bereitzustellen. Im Juni 2018 erfolgte zudem die Anerkennung einer libyschen Such- und Rettungszone. Damit sind die libyschen Behörden de facto für die Reaktion auf Seenotfälle und die Koordination bei der Zuweisung eines sicheren Ortes für die geretteten Menschen zuständig. Diese Zuständigkeit erstreckt sich auch auf internationale Gewässer, also das Gebiet, in dem die zivilen Seenotretter*innen im Einsatz sind. Seit die libysche Leitstelle Such- und Rettungseinsatze in der Region koordiniert, ist die Zahl der auf See abgefangenen und illegal nach Libyen zurückgebrachten Personen dramatisch gestiegen. Gleichzeitig mussten alle Seenotrettungsorganisationen miterleben, dass die libysche Rettungsleitstelle nicht in der Lage ist, effektiv und sicher auf Seenotfälle zu reagieren. In der Regel antwortet die Leitstelle nicht oder nur mit grosser Verspätung auf Kontaktaufnahmen, oder es fehlen Ansprechpartner*innen, die Englisch sprechen. Häufig werden widersprüchliche oder unklare Anweisungen gegeben. Am schwersten wiegt jedoch, dass die libysche Küstenwache Gerettete gegen geltendes Recht zurück nach Libyen bringt, wo sie erneut in einen Zyklus von Menschenrechtsverletzungen und Gewalt fallen (siehe Situation in Libyen).

 

Situation in Libyen

Die Lage im zentralen Mittelmeer ist ohne Kenntnis der Situation in Libyen nicht zu verstehen. Aufgrund seiner geografischen Lage ist Libyen das wichtigste Transitland für Flüchtende aus den Subsahara-Staaten auf dem Weg nach Europa. Spätestens seit dem Zusammenbruch des Gaddafi- Regimes im Jahr 2011 ist das Land aufgrund des anhaltenden Bürgerkriegs und der Kämpfe bewaffneter Milizen vom Staatszerfall geprägt. Nach dem Ausbruch des sogenannten zweiten libyschen Bürgerkriegs 2014 hat sich nach einer Friedensinitiative der Vereinten Nationen 2016 eine libysche Einheitsregierung gebildet. Ihre Anerkennung ist umstritten, da sie nur Gebiete im Westen des Landes kontrolliert und nur bedingt zur Ausübung der Staatsgewalt in der Lage ist. Die in Libyen geltende Migrationsgesetzgebung steht teilweise im Widerspruch zu internationalen Menschenrechtsabkommen, die das Land unterzeichnet hat. Die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 hat Libyen nicht unterzeichnet und das Land garantiert kein Recht auf Asyl. Aufgrund fehlenden rechtlichen Schutzes sind Migrant*innen und Flüchtende massiven Menschenrechtsverletzungen wie Zwangsarbeit, Menschenhandel, Folter, sexualisierter Gewalt und willkürlicher Erschiessung ausgesetzt. Nach Angaben des Hochkommissariats für Menschenrechte der Vereinten Nationen (OHCHR) sollen im Juni 2019 allein in der Hauptstadt Tripolis mehr als 3.000 Flüchtende und Migrant*innen in Haftzentren festgehalten worden sein. Neben offiziellen Haftzentren, die dem libyschen Innenministerium unterstellt sind, gibt es unzählige „Privatgefängnisse“ bewaffneter Milizen (Bauernhöfe, Fabrikhallen, private Häuser und Wohnungen), wo Menschen willkürlich gefangen gehalten werden. Um diesen Zuständen zu entkommen, wählen viele von ihnen, notgedrungen mithilfe von kriminellen Schleppern, den lebensgefährlichen Fluchtweg über das Mittelmeer.

Sie haben uns nichts zu essen gegeben. Nur salziges Wasser. Wir wurden endlos geschlagen und gefoltert, bis unsere Eltern Geld schickten, damit wir freigelassen werden.Adam, 19 Jahre alt. Ganze Erzählung. 

“Libyen ist ein Ort voller Gewalt, an dem viele Menschen vergewaltigt und ermordet werden. Ich bin froh, dass ich keiner von ihnen war. Um der Gewalt zu entkommen, bezahlte mir ein Freund meiner Eltern einen Platz auf einem Boot auf dem Weg zu einem besseren Ort.” Muhammad, 18 Jahre alt. Ganze Erzählung.

“Ich erledigte die Hausarbeit für ihn; das Haus durfte ich nicht verlassen. Nie! In dieser ganzen Zeit verliess ich das Haus kein einziges Mal. Ich war wie sein Sklave. Ich weiß nicht in welcher Stadt das war. Durch die Fenster konnte ich nur ein paar andere Häuser in der Umgebung sehen.” Yussif, 17 Jahre alt. Ganze Erzählung.


[1] IOM, Missing Migrants: https://missingmigrants.iom.int/region/mediterranean, aufgerufen am 15. November 2020

[2] IOM, Missing Migrants: https://missingmigrants.iom.int/region/mediterranean, aufgerufen am 18. November 2020

 

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