[MEDIENMITTEILUNG] Drei Jahre Malta-Erklärung: Aufbau der libyschen Küstenwache durch die Staaten des europäischen Kontinents hat die Lage im Mittelmeer verschlimmert

Vor drei Jahren, am 3. Februar 2017, haben die europäischen Regierungen die Malta-Erklärung unterzeichnet. Damit ebneten sie den Weg zum Aufbau der libyschen Küstenwache im zentralen Mittelmeer. Eine libysche Such- und Rettungsregion wurde festgelegt und eine libysche Rettungskoordinierungsstelle eingerichtet – finanziert von Europa. Zuvor hatte die italienische Rettungsleitstelle die Verantwortung für die Koordinierung von Seenotfällen in internationalen Gewässern vor der libyschen Küste übernommen. Nun wurde die libysche Küstenwache offiziell zuständig.

Die Malta-Erklärung – Grundstein für einen schweren Bruch des Völkerrechts

Seit der Umsetzung der Malta-Erklärung hat die zivile Seenotrettungsorganisation SOS MEDITERRANEE wiederholt beobachtet, wie die libysche Küstenwache auf hoher See Menschen abgefangen und gewaltsam nach Libyen zurückgebracht hat. Ausserdem weist die Rettungskoordinierungsstelle in Tripolis Rettungsschiffe wie die Ocean Viking von SOS MEDITERRANEE dazu an, aus Seenot gerettete Menschen zurück nach Libyen zu bringen. Seerecht und internationales Recht verlangen jedoch, dass aus Seenot gerettete Personen an einen sicheren Ort gebracht werden müssen, was das krisengeschüttelte Libyen nicht ist. SOS MEDITERRANEE hat bei Einsätzen vor Ort mehrfach erlebt, wie unzuverlässig und unberechenbar die libysche Küstenwache agiert und so Menschenleben weiter gefährdet.

„Mit der Malta-Erklärung hat die Europäische Union den Grundstein für einen schweren Bruch des Völkerrechts gelegt, der mit europäischen Steuergeldern finanziert wird“, resümiert Caroline Abu Sa‘Da, Geschäftsführerin von SOS MEDITERRANEE in der Schweiz. „Die Staaten des europäischen Kontinents müssen zu ihren Werten stehen und dringend eine umfassende Seenotrettungsmission einleiten, die ihren Namen verdient, das Seerecht einhält und Menschenleben schützt“, fordert Abu Sa‘Da.

Rund 39.000 Menschen wurden laut dem Institut für Internationale Politische Studien [1] zwischen März 2017 und heute nach Libyen zurückgebracht. Verglichen mit der Gesamtzahl der Ankünfte in Italien und Malta, die in den letzten Jahren stetig gesunken ist, hat der Anteil derer, die abgefangen und unrechtmässig nach Libyen zurückgeführt wurden, deutlich zugenommen.

„Die Staaten des europäischen Kontinents haben sich in den letzten Jahren aus der Seenotrettung vor Ort immer weiter zurückgezogen und gleichzeitig die libysche Küstenwache finanziert, ausgebildet und ausgerüstet – mit dem Ziel, Menschen abzufangen, die aus Libyen fliehen. Sie schicken sie in einen Kreislauf aus Gewalt und Missbrauch im kriegszerrütteten Libyen zurück. Von den geretteten Menschen an Bord unseres Rettungsschiffs hören wir immer wieder schockierende Berichte über Folter, Vergewaltigung, Zwangsarbeit und sogar Hinrichtungen. Die meisten der Überlebenden sind verletzt oder traumatisiert. Eines der Kernelemente dieser menschenverachtenden Praxis ist die Malta-Erklärung, die im Februar 2017 von den europäischen Staats- und Regierungschefs unterzeichnet wurde», sagt Caroline Abu Sa‘Da.

Fehlende Koordination von Such- und Rettungseinsätzen im zentralen Mittelmeer

2016 hat SOS MEDITERRANEE mit seinem Einsatz im zentralen Mittelmeer begonnen, zunächst mit dem Rettungsschiff Aquarius und seit August 2019 mit der Ocean Viking. Bei zahlreichen Such- und Rettungsnotfällen mussten die Seenotretter*innen erleben, wie die libysche Küstenwache Anrufe und E-Mails mit der Bitte um Koordinierung nicht beantwortete. Lebensrettenden Informationen, die Schiffe wie die Ocean Viking benötigten, um Booten in Seenot zur Hilfe zu kommen zu können, wurden nicht zur Verfügung gestellt.

Ende letzter Woche waren laut UNHCR [2] mehr als 500 Menschen im zentralen Mittelmeer dringend auf Hilfe angewiesen. Keine einzige Behörde konnte die Rettungen koordinieren. Während die Crew der Ocean Viking innerhalb von 72 Stunden fünf Einsätze hintereinander hatte und 407 Menschen aus Seenot rettete, gab die libysche Küstenwache bekannt, dass sie nicht in der Lage sei, Rettungseinsätze durchzuführen.

„Die Ereignisse am Wochenende haben einmal mehr gezeigt, dass es den paar Schiffen, die überhaupt noch Hilfe leisten – auch wenn eigentlich alle Schiffe dazu verpflichtet sind, es aber nur noch wenige tun – völlig an Koordination mangelt. Die Chancen, auf hoher See ein Boot in Seenot ohne jegliche Anweisung oder Informationen der zuständigen Behörden zu finden, sind sehr gering. Am Sonntag reagierten wir auf zwei Notrufe, die weite 120 Seemeilen entfernt waren. Und dass, nachdem wir in drei herausfordernden, nächtlichen Einsätzen schon 223 Überlebende gerettet hatten. Obwohl alle Schiffe in der Gegend alarmiert wurden, wussten wir, dass die Menschen auf diesen Booten ohne unsere Beteiligung höchstwahrscheinlich nicht gerettet werden würden. Mit einer Mischung aus Erfahrung und Glück gelang es uns schliesslich, sie zu finden und zu retten. Am Ende hatte wir insgesamt 407 Menschen an Bord der Ocean Viking.

Eine Verbesserung der Situation in Libyen ist nicht in Sicht. Die Menschen werden also weiterhin die gefährliche Flucht über das Mittelmeer versuchen. Es ist für sie ist der einzige Ausweg aus den systematischen Misshandlungen in Libyen. Wir fürchten um ihr Leben, wenn es nicht ein gemeinsames Bestreben gibt geleitet von Solidarität zwischen den Staaten des europäischen Kontinents die Such- und Rettungskapazitäten zu erhöhen», sagt Abu Sa’Da von SOS MEDITERRANEE Schweiz.

„Wie lange werden die Staaten des europäischen Kontinents die libysche Küstenwache noch stärken und finanzieren? Wir sprechen von Tausenden von Männern, Frauen und Kindern, die auf See sterben, während die EU weiterhin ein libysches Rettungssystem finanziert, dem es an Kapazitäten fehlt, ein solches Mandat zu erfüllen. Menschen in Seenot an einen Ort zurückzubringen, an dem sie in keinster Weise sicher sind, und andere Schiffe anzuweisen, dasselbe zu tun, ist ein klarer Verstoss gegen das Völker- und Seerecht», sagt Caroline Abu Sa’Da, Geschäftsführerin von SOS MEDITERRANEE Schweiz.

Die Seenotretter fordern eine kompetente Stelle zur Koordination von Seenotfällen und die Wiederaufnahme einer proaktiven europäischen Rettungsmission. Das Retten von Menschenleben müsse oberstes Gebot europäischer Politik sein.

[1] IPSI: Migration en Méditerranée. Tous les chiffres
[2] UNHCR: The Refugee Brief – 27 January 2020

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