[MEDIENMITTEILUNG] SOS MEDITERRANEE bringt 236 Gerettete nach Italien  

Medienmitteilung
Bern, 01.05.2021


Die Seenotrettungsorganisation SOS MEDITERRANEE darf heute 236 gerettete Menschen in Italien an Land bringen, nachdem sie letzte Woche Zeugin eines Bootsunglücks mit 130 Toten wurde. Das Schiff der europäischen Nichtregierungsorganisation, die Ocean Viking, hat von den zuständigen Behörden den Hafen von Augusta auf Sizilien zugewiesen bekommen.  

Die Menschen waren am Dienstag, den 27. April, aus zwei in Seenot geratenen Schlauchbooten im zentralen Mittelmeer von der Crew der Ocean Viking gerettet worden. Nur fünf Tage zuvor hatte diese stundenlang bei schlechtem Wetter nach einem Boot gesucht, zu dem es einen Notruf gegeben hatte. Doch konnte sie am Ende nur noch ein zerborstenes Schlauchboot finden und zahlreiche Tote im Wasser treibend.

„Die Überlebenden, die wir heute an Land bringen können, sind erleichtert, endlich an einen sicheren Ort zu kommen“, sagt Caroline Abu Sa’Da, Geschäftsführerin von SOS MEDITERRANEE Schweiz „Doch bei den Retterinnen und Rettern hinterlässt das dramatische Erlebnis des Schiffbruchs mit 130 Toten in der vergangenen Woche Trauer und Bitterkeit. Sie haben das dringende Bedürfnis, Europas Öffentlichkeit über die schockierende Realität, die sie im Mittelmeer erlebt haben, aufzuklären“, sagt Caroline Abu Sa’Da.

Die durch die EU verursachte, humanitäre Katastrophe spitzt sich weiter zu 

Innerhalb einer Woche wurde SOS MEDITERRANEE mehrfach Zeugin der europäischen Abschottungspolitik: ein Schiffbruch ohne Überlebende, die Rettung von 236 Menschen aus zwei seeuntauglichen Schlauchbooten und mehrere Rückführungen der libyschen Küstenwache, die Menschen auf der Flucht abfängt und rechtswidrig in das Bürgerkriegsland zurückschleppt.

„In Libyen internierte, gefolterte und ausgebeutete Menschen haben keine andere Wahl, als die gefährliche Flucht über das Mittelmeer zu riskieren. Diese Zustände in Libyen sind den politisch Verantwortlichen in Europa und der Schweiz wohl bekannt. Dennoch entscheiden sie sich bewusst dafür, nicht selbst zu retten. Stattdessen lagern sie die staatliche Verantwortung zur Seenotrettung an die libysche Küstenwache aus, die sie finanzieren, und halten so den Kreislauf der Gewalt und Menschenrechtsverletzungen aufrecht“, beklagt Caroline Abu Sa’Da. „Gleichzeitig weigern sich die Seebehörden in Libyen, Italien und Malta zivile Rettungsschiffe wie unseres zu koordinieren und mit Informationen zu versorgen. Das ist zutiefst menschenverachtend.“ 

Geflüchtete, darunter Minderjährige, wurden geschlagen und in die Boote gezwungen 

Viele der Geretteten auf der Ocean Viking berichten an Bord von der Gewalt, die sie in Libyen erleiden mussten. Als sie in der Nacht der Abfahrt die seeuntauglichen Schlauchboote und die hohen Wellen sahen, bekamen sie Angst. Doch sie wurden geschlagen und auf die Boote gezwungen. So erzählten es auch einige der 119 unbegleiteten Minderjährigen an Bord der Ocean Viking. „Ich habe nicht geglaubt, dass wir überleben würden», sagt der 20-jährige Daouda* aus Burkina Faso.

Gestern hat zum ersten Mal seit Monaten ein europäisches Schiff der italienischen Marine eine Rettung in internationalen Gewässern vor Libyen durchgeführt. SOS MEDITERRANEE fordert, dass sieben Jahre nach dem Ende der italienischen Operation Mare Nostrum endlich ein gesetzeskonformes und humanes europäisches Such- und Rettungsprogramm etabliert wird. Dazu gehöre die Koordination von Rettungen unter Einbeziehung aller vor Ort verfügbaren Schiffe.

„Europa und die Schweiz dürfen angesichts immer wiederkehrender Schiffsunglücke nicht länger untätig bleiben. Die gezielte Unterstützung von illegalen Zwangsrückführungen nach Libyen muss beendet werden. Die EU muss endlich zu ihren eigenen rechtsstaatlichen Prinzipien stehen, um diese Katastrophe jetzt zu stoppen“, sagt Caroline Abu Sa’Da.

*Name geändert

Hintergrund:  

Am 27. April 2021 rettete das Team der Ocean Viking in internationalen Gewässern in der libyschen Such- und Rettungszone 236 Männer, Frauen und Kinder aus zwei in Seenot geratenen Schlauchbooten. Nur wenige Tage zuvor, am 22. April, wurde die Crew Zeugin eines Schiffsunglücks, das in der libyschen Such- und Rettungszone rund 130 Menschenleben forderte. Das Team an Bord der Ocean Viking fand ein Dutzend Leichen vor. In den Stunden vor dem Auffinden des Schiffswracks wurde die Ocean Viking, das einzige zivile Rettungsschiff in diesem Gebiet, von keiner relevanten Behörde informiert. Keine Seenotrettungsleitstelle sorgte für eine effiziente Koordinierung des Notfalls. Erst im Nachgang der Ereignisse gab die europäische Grenzschutzagentur Frontex bekannt, dass es eines ihrer Patrouillenflugzeuge war, das zwei MAYDAY-Signale für das in Seenot geratene Boot absetzte. Drei Handelsschiffe und die Ocean Viking koordinierten sich untereinander, um die Suche nach Überlebenden zu organisieren. Unsere Anfragen nach Unterstützung und Koordination blieben wieder unbeantwortet.

Detailliertere Zusammenfassungen der Ereignisse:

Am 28. April fing die libysche Küstenwache zwei in Seenot geratene Boote in unmittelbarer Nähe der Ocean Viking ab - vor den Augen der Geretteten und der Crew an Bord. Die Internationale Organisation für Migration (IOM) bestätigte, dass mehr als 100 Menschen zwangsweise nach Libyen zurückgebracht wurden. Nach Angaben einer Sprecherin der IOM wurden alle, auch die Frauen und Kinder, in Internierungslager gebracht.

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Fotonachweis: Flavio Gasperini / SOS MEDITERRANEE