Logbuch

[Blick auf das zentrale Mittelmeer #21] Verlust von Menschenleben, blockierte Rettungsschiffe und unzählige Zwangsrückführungen, während Engagement zur Verteilung Geretteter auf europäische Staaten gering bleibt

[26.05.21-08.06.21] Auf Grundlage öffentlicher Berichte anderer NGOs, internationaler Organisationen und der internationalen Presse geben wir einen Überblick zu Such- und Rettungseinsätzen in den letzten zwei Wochen im zentralen Mittelmeer. Dieser hat nicht den Anspruch auf Vollständigkeit, verschafft aber einen Eindruck über die Entwicklungen in dem Gebiet, in dem wir seit 2016 als Such- und Rettungsorganisation tätig sind.

Menschen sterben weiterhin im Mittelmeer, dieses Jahr schon mindestens 675 Tote

Die Zahl der Todesopfer im zentralen Mittelmeer hat sich in den letzten zwei Wochen weiter erhöht. Die offizielle Zahl, die von der Internationalen Organisation für Migration (IOM) im Rahmen des Projekts „Missing Migrants“ gemeldet wurde, steigt in diesem Jahr bereits auf 675 Todesfälle.

Laut Reuters berichtete der tunesische Rote Halbmond, dass letzte Woche mindestens 23 Menschen bei einem Schiffsunglück vor Tunesien ertranken. Die tunesische Marine nahm 70 der mehr als 90 Menschen, die von Libyen abgelegt hatten, an Bord. Am selben Tag barg die tunesische Marine 39 Menschen von einem anderen Boot. Reuters berichtet, dass es vor der Küste von Sfax, Tunesien, gesunken war. Nur wenige Tage zuvor waren 7 Leichen vor der tunesischen Insel Djerba geborgen worden.

UNICEF gab laut InfoMigrants am 31. Mai 2021 bekannt, dass die Leichen von drei Kindern in Zuwara, Libyen, an Land gespült wurden.

Alarm Phone meldete, dass möglicherweise zwei Personen auf einem Boot, das Anfang des Monats von Libyen ablegte, starben. Berichten zufolge ging der Treibstoff an Bord aus und das Boot trieb zurück an die libysche Küste. Von den Todesfällen an Bord erfuhr Alarm Phone über den Verwandten Überlebender.

Am 31. Mai 2021 berichtete Alarm Phone, dass ein libyscher Fischer einem in Seenot geratenen Boot zu Hilfe kam. Nach dessen Angaben sollen bis zu 16 Insassen des Bootes ihr Leben verloren haben.

Zwischen Anerkennung und Blockade; fünf NGO-Schiffe in Italien festgesetzt

Die Sea Eye 4 wurde am 4. Juni nach einer 12-stündigen Hafenstaatkontrolle in Palermo, Sizilien, festgesetzt. Mehr als 400 auf See gerettete Menschen waren zuvor in Pozzallo, Sizilien, von der Sea Eye 4 an Land gebracht worden. Während einer obligatorischen Quarantäne für die Besatzung erhielt das Schiff die Erlaubnis, den Hafen von Palermo anzulaufen.

Mit der Festsetzung der Sea Eye 4  steigt die Zahl der zivilen Such- und Rettungsschiffe, die derzeit von den italienischen Behörden unter Arrest gestellt werden, auf fünf:: die Sea Watch 3 und 4, die Open Arms und die Alan Kurdi befinden sich ebenfalls noch in Verwaltungshaft. Der Alan Kurdi wurde vorübergehend die Genehmigung zum Auslaufen erteilt, um eine Werft in Spanien zu erreichen.

Vergangene Woche wurde der Aita Mari Augusta als sicherer Ort für 50 Überlebende zugewiesen, die vier Tage zuvor gerettet wurden. Die Ausschiffung fand am Montag statt. Alle Überlebenden und die Crew wurden negativ auf COVID-19 getestet. Die Aita Mari erhielt daraufhin die Erlaubnis, am nächsten Tag nach Burriana, Spanien, auszulaufen, ohne im Hafen von Augusta in Quarantäne gehen zu müssen.

In Dänemark wurden der Crew der Mare Jonio der zivilen SAR-NGO Mediterranea und der Besatzung des Tankers Maersk Etienne der Maritime Price von Danish Shipping, dem dänischen Verband der Reeder und Offshore-Unternehmen, verliehen. Die Crews wurden dafür ausgezeichnet, dass sie 27 Menschen in Not halfen. Diese mussten vergangenen Sommer 38 Tage an Bord der Maersk Etienne verbringen, ohne dass ihnen ein sicherer Ort zugewiesen wurde. Danach nahm sie die Crew der Mare Jonio an Bord und die Menschen konnten das Schiff in einem italienischen Hafen verlassen. Gleichzeitig laufen in Italien Ermittlungen wegen „Beihilfe zur illegalen Einwanderung“ und „Verstosses gegen die Regeln des Schifffahrtsgesetzes“ gegen die Mediterranea-Besatzung.

In den ersten sechs Monaten dieses Jahres bereits genauso viele Menschen von der libyschen Küstenwache abgefangen wie im ganzen Jahr 2020

Im Zeitraum vom 23. bis 29. Mai und zwischen dem 30. Mai bis 5. Juni wurden insgesamt 1.052 Menschen von der libyschen Küstenwache auf See abgefangen und nach Libyen zurückgezwungen. Damit steigt die Zahl der Zwangsrückführungen nach Libyen in diesem Jahr bereits auf über 10.711, im Vergleich zu knapp 12.000 im Jahr 2020. Allein zwischen dem 28. und 31. Mai wurden nach Angaben des UNHCR mehr als 822 Menschen von der libyschen Küstenwache zurück nach Tripolis gebracht.

Die Besatzung des Rettungsschiffes «Geo Barents», gechartert und betrieben von Ärzte ohne Grenzen (MSF), wurde sowohl am 31. Mai als auch am 1. Juni Zeuge illegaler Rückführungen durch die libyschen Küstenwache. Auch am 8. Juni wurden 59 Menschen nach Libyen zurückgezwungen.

Berichten von InfoMigrants zufolge, fingen die tunesische Küstenwache und Marine am 28. Mai über 250 Menschen auf See ab. Sie hatten von Libyen und Tunesien aus versucht, Europa zu erreichen.

Italienische Regierung trifft sich mit zivilen Rettungsorganisationen, während Malta-Vereinbarung weiterhin blockiert wird

Am 28. Mai trafen sich italienische Vertreter der Such- und Rettungsorganisationen Emergency, Ärzte ohne Grenzen (MSF), Mediterranea Saving Humans, Open Arms, ResQ-People saving People, Sea-Watch und SOS MEDITERRANEE mit der italienischen Innenministerin Luciana Lamorgese. Sie forderten an erster Stelle die Einrichtung eines effektiven europäischen Such- und Rettungsmechanismus sowie das Ende der Kriminalisierung ziviler Such- und Rettungsaktivitäten. Die italienische Regierung wiederum beharrte auf der Notwendigkeit, dass die jeweiligen Flaggenstaaten der NGO-Schiffe bei der Zuweisung eines sicheren Hafens helfen. Des Weiteren sollen sie sich an der Verteilung Geretteter nach der Ausschiffung beteiligen, berichtete La Repubblica.

Bisher haben nur Irland und Litauen sich bereit erklärt, jeweils zehn Menschen aufzunehmen. Sie reagierten damit auf den Anfang Mai kommunizierten Aufruf an die EU-Staaten, sich an der Verteilung der Menschen, die Italien über das Mittelmeer erreichen, zu beteiligen. Auch Luxemburg hat seine Hilfe angeboten.

In der vergangenen Woche fanden mehrere bilaterale Treffen zwischen hochrangigen europäischen Vertreter*innen und Drittstaaten statt, um über Migration und Grenzkontrollen in Tunesien, Libyen, Italien und Frankreich zu diskutieren. Am 31. Mai trafen sich Abdelhamid Dabaiba, Ministerpräsident der Regierung der Nationalen Einheit Libyens, und Mario Draghi, Ministerpräsident Italiens. Draghi sagte, dass Italien weiterhin seinen Beitrag an Ressourcen und Mitteln zur Ausbildung leisten wird. Dennoch sei ein entschlossenes und schnelles Handeln der Europäischen Union erforderlich. Zudem kündigte er an, dass Migration beim Europäischen Rat im Juni erneut Thema sei. Premierminister Dabaiba dankte seinerseits Italien und der EU „für all ihre Bemühungen, die grosse Unterstützung (…) und die grossartige Arbeit der italienischen Küstenwache.“

***
Foto: Flavio Gasperini / SOS MEDITERRANEE