Logbuch

Foto-Weg rund um die Seenotrettung

Wir nehmen Sie mit auf eine Entdeckungstour, die Ihnen die Menschen, die übers Mittelmeer fliehen, sowie verschiedene Aspekte der Seenotrettung näherbringen!

Der Foto-Weg wurde von SOS MEDITERRANEE Schweiz zusammen mit Freiwilligengruppen verschiedener Städte organisiert. Mehr Informationen hier.


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Online-Guide

Dieser Online-Guide ergänzt die Bilder unseres Foto-Wegs mit thematischen Hintergrundinformationen. So möchten wir Ihnen unsere Arbeit im zentralen Mittelmeer näherbringen und mit Ihnen die Erzählungen von Menschen, die übers Mittelmeer fliehen mussten, teilen.

Die Googlekarte Ihrer entsprechenden Stadt können Sie hier herunterladen.

An gewissen Tagen bieten unsere Freiwilligen ebenfalls geführte Rundgänge an. Mehr Informationen finden Sie hier.

Inhaltsverzeichnis

Standort 1: SOS MEDITERRANEE
Standort 2: Das zentrale Mittelmeer
Standort 3: Rettungseinsätze im zentralen Mittelmeer
Standort 4: Leben an Bord
Standort 5: Frauen und Mädchen
Standort 6: Jugendliche und Kinder
Standort 7: Medizinische Hilfe und Covid-Massnahmen
Standort 8: Portraits

SOS MEDITERRANEE

Fotos: Fabian Mondl und Hara Kaminara / SOS MEDITERRANEE

Über uns

SOS MEDITERRANEE ist eine zivilgesellschaftliche humanitäre Organisation für Seenotrettung im zentralen Mittelmeer. Die Organisation gründete sich im Mai 2015 nach Einstellung des italienischen Seenotrettungsprogramms „Mare Nostrum“ im Jahr 2014. Sie reagierte damit auf die dramatisch ansteigende Zahl ertrinkender Menschen im Mittelmeer. Mehr erfahren Sie hier.

Ziele von SOS MEDITERRANEE

  • Leben retten – Rettung von Menschen aus Seenot
  • Schützen & begleiten – medizinische Versorgung & Unterstützung von Überlebenden an Bord des Schiffes
  • Bezeugen – Dokumentation der Schicksale von Geretteten sowie der allgemeinen Situation im zentralen Mittelmeer

Über 32’000 Menschen gerettet

SOS MEDITERRANEE ist mit dem Rettungsschiff Ocean Viking, einer professionellen Rettungscrew und einem medizinischen Team direkt vor Ort, um Frauen, Männer und Kinder, die im Mittelmeer in Seenot geraten, zu retten. Seit Februar 2016 hat SOS MEDITERRANEE über 32’000 Menschen gerettet und ist Zeuge der Abwesenheit eines offiziellen Seenotrettungsprogramms und fehlender institutioneller Massnahmen im Mittelmeer geworden.

Über unseren Newsletter erhalten Sie regelmässig Neuigkeiten zu unserer lebensrettenden Arbeit im zentralen Mittelmeer.

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Das zentrale Mittelmeer

Fotos : Kevin Mc Elvaney / SOS MEDITERRANEE

Seit 2014 haben laut der Internationalen Organisation für Migration (IOM) mehr als 21.000 Menschen ihr Leben im Mittelmeer verloren, Dunkelziffer unbekannt.[1] Rund 80% davon starben im zentralen Mittelmeer, dem Meeresabschnitt zwischen Libyen und Italien und Einsatzgebiet von SOS MEDITERRANEE. Heute ist dieses eine der tödlichsten Fluchtrouten der Welt.

Die Überquerung des zentralen Mittelmeers ist unter anderem aufgrund der grossen Distanz zwischen Libyen und Europa so gefährlich, welche 300 bis 430 km beträgt (Vergleich: Bern – Stuttgart oder Bern – Frankfurt). Zudem sind die Boote, welche für die Überfahrt verwendet werden, systematisch überfüllt und in einem extrem zerbrechlichen und seeuntauglichen Zustand:

  • Ein Schlauchboot ist für 30 bis 60 Personen gedacht, oft befinden sich jedoch über 100 Personen an Bord. Dies kann dazu führen, dass sich der Boden verbiegt und die Menschen, die in der Mitte sitzen, von den anderen zerquetscht werden.
  • Holzboote haben manchmal über 800 Personen an Bord, obwohl sie für viel weniger Personen gebaut sind. Einige sitzen im Rumpf des Bootes, unter dem Deck. Dies ist äusserst gefährlich, denn wenn das Boot kentert oder sich mit Wasser füllt, haben diese Menschen fast keine Überlebenschance.
  • Was auf den Bildern nicht direkt zu sehen ist: Oft haben diese Boote zu wenig Benzin, um das Mittelmeer überqueren zu können. Zudem hat es auf den Booten keinen Platz, um genügend Essen oder Trinken mitzunehmen. Die Menschen auf den Booten tragen des Weiteren oft keine Schwimmwesten.

Muhammad* erzählte uns, wie die Überfahrt für ihn war. Seine ganze Erzählung finden Sie hier.

Zudem ist die Überquerung des zentralen Mittelmeers in den letzten Jahren noch gefährlicher geworden, die Sterblichkeitsrate ist explodiert und die humanitäre Lage hat sich weiter zugespitzt.

Dieser Anstieg der Sterblichkeitsrate ist vor allem auf den Mangel an staatlichen und zivilen Rettungskapazitäten im Mittelmeer zurückzuführen. Seit dem Ende des italienischen Seenotrettungsprogramms Mare Nostrum, welches in einem Jahr rund 150.000 Menschen aus Seenot rettete, gibt es keine staatlichen Programme mehr, die sich der Seenotrettung im Mittelmeer widmen. Seit 2017 sind zudem zivile Rettungsorganisationen, die ihre Such- und Rettungsaktivitäten im zentralen Mittelmeer im Jahr 2015 aufgenommen haben, aufgrund administrativer und gerichtlicher Blockaden nur noch sporadisch im Einsatz. Darüber hinaus werden seit 2017 immer mehr Menschen völkerrechtswidrig von der libyschen Küstenwache auf See abgefangen und zurück nach Libyen gezwungen.

Aufbau der libyschen Küstenwache

Bereits im Februar 2017 einigte sich der Europäische Rat, 200 Millionen Euro für die Finanzierung, Ausbildung und Ausrüstung der libyschen Küstenwache bereitzustellen. Im Juni 2018 erfolgte zudem die Anerkennung einer libyschen Such- und Rettungszone. Damit sind die libyschen Behörden de facto für die Reaktion auf Seenotfälle und die Koordination bei der Zuweisung eines sicheren Ortes für die geretteten Menschen zuständig. Diese Zuständigkeit erstreckt sich auch auf internationale Gewässer, also das Gebiet, in dem die zivilen Seenotretter*innen im Einsatz sind. Seit die libysche Leitstelle Such- und Rettungseinsatze in der Region koordiniert, ist die Zahl der auf See abgefangenen und illegal nach Libyen zurückgebrachten Personen dramatisch gestiegen. Gleichzeitig mussten alle Seenotrettungsorganisationen miterleben, dass die libysche Rettungsleitstelle nicht in der Lage ist, effektiv und sicher auf Seenotfälle zu reagieren. In der Regel antwortet die Leitstelle nicht oder nur mit grosser Verspätung auf Kontaktaufnahmen, oder es fehlen Ansprechpartner*innen, die Englisch sprechen. Häufig werden widersprüchliche oder unklare Anweisungen gegeben. Am schwersten wiegt jedoch, dass die libysche Küstenwache Gerettete gegen geltendes Recht zurück nach Libyen bringt, wo sie erneut in einen Zyklus von Menschenrechtsverletzungen und Gewalt fallen.

[1] IOM, Missing Migrants, https://missingmigrants.iom.int/region/mediterranean

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Rettungseinsätze im zentralen Mittelmeer

Fotos: Stefan Dold / MSF und Anthony Jean / SOS MEDITERRANEE

Wie läuft ein Rettungseinsatz ab?

1) Suche und Sichtung von Schiffbrüchigen

Ein Rettungseinsatz beginnt in der Regel mit der Sichtung eines in Seenot geratenen Bootes. Meist sind die Schlauch- oder Holzboote deutlich überbesetzt. Zudem verfügen die Menschen an Bord in den seltensten Fällen über ausreichende Schutzausrüstung wie beispielsweise Rettungswesten und viele der Menschen können nicht schwimmen.

Das Auffinden eines in Seenot geratenen Bootes kann auf verschiedenen Wegen erfolgen:

  • Eine Möglichkeit ist der Empfang eines Notrufes durch eine Seenotrettungsleitstelle. Jedes Schiff in der Nähe des in Seenot geratenen Bootes kann diesen Notruf empfangen. Das nächstgelegene Schiff muss dann so schnell wie möglich Hilfe leisten.
  • Eine weitere Möglichkeit stellt die Sichtung eines in Seenot geratenen Bootes dar. Dies geschieht auf der Ocean Viking durch Brückenbeobachtung per Fernglas beziehungsweise mithilfe der beiden Schiffsradare, bei Dunkelheit mit Unterstützung der Infrarotkamera. Sobald ein Crewmitglied ein Boot in Seenot entdeckt, erbittet der/die Such- und Rettungskoordinator*in an Bord die zuständige Koordinierungsbehörde, die Rettung durchführen zu dürfen.
  • Eine andere Möglichkeit ist die Sichtung durch zivile Flugzeuge, die das Mittelmeer beobachten. Sobald diese aus der Luft ein Boot in Seenot erkennen, alarmieren sie die Schiffe in der Nähe.
  • Ausserdem werden auch Funkgespräche zwischen anderen Schiffen abgehört, die sich im näheren Umfeld unseres Schiffes befinden. Der/die Kapitän*in und der/die Such- und Rettungskoordinator*in müssen in diesem Fall eine Einschätzung treffen, ob die Funksprüche auf ein in Seenot geratenes Schiff hindeuten. Ist dies der Fall, wird bei den zuständigen Behörden um Genehmigung gebeten, bei der Rettung unterstützen zu dürfen.

2) Rettung und Aufnahme an Bord

Die Bergung der zu rettenden Personen ist ein hochgradig kritischer Moment während eines Such- und Rettungseinsatzes. Nicht selten trifft unser Team auf Boote, die bereits beschädigt sind und zu kentern drohen. Zudem können Bedingungen wie hoher Wellengang, Unwetter oder schlechte Sicht in der Nacht die Rettung zusätzlich erschweren. Unser Rettungsteam wird durch Schulungen und regelmässige praktische Trainings auf solche Situationen vorbereitet.

Für die Rettung nähert sich das Rettungsteam nicht mit dem grossen Schiff, sondern mit schnellen Beibooten (Bilder) dem Schlauch- oder Holzboot in Seenot und nimmt Kontakt mit den Menschen auf. Nicht selten sind diese in Panik. In solchen Fällen ist es für die Crew entscheidend, Ruhe zu bewahren und den Menschen die Angst zu nehmen. Zugleich informiert sie in mehreren Sprachen über den Ablauf der Rettung. Danach verteilt sie Rettungswesten an alle, um ein Ertrinken beim Verlassen des Fluchtbootes zu verhindern. Erst wenn alle Personen eine Rettungsweste angelegt haben, nimmt das Rettungsteam die Menschen in kleinen Gruppen an Bord der Schnellboote. Medizinische Notfälle werden zuerst evakuiert, anschliessend folgen Kinder und Frauen, dann Männer.

Mary, Teil des Such- und Rettungsteams, erklärt die Schwierigkeiten einer Rettung (Erzählung). Die ganze Erzählung finden Sie hier.

Der Journalist Ben hat uns an Bord unseres ehemaligen Rettungsschiffs Aquarius begleitet. In seiner Reportage erklärt er, wie ein Rettungseinsatz abläuft:

Weitere Reportagen über SOS MEDITERRANEE finden Sie hier.

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Leben an Bord

Fotos: Yann Levy und Fabian Mondl / SOS MEDITERRANEE

Versorgung an Bord

An Bord unseres Rettungsschiffs nimmt das medizinische Team die Geretteten in Empfang und versorgt sie: Die Geretteten erhalten saubere Kleidung, ein Handtuch, eine Decke, Wasser und Essen. Frauen und Kinder werden in einem eigenen Schutzraum untergebracht. Den Männern steht ein weiterer Raum zur Verfügung.

Aufgrund unseres Covid-Protokolls müssen alle an Bord Schutzmasken tragen (Bild). Mehr zu den Covid-Schutzmassnahmen finden Sie beim Posten „medizinische Hilfe“.

Zeit zum Reden – Dokumentation der Geschichten der Geretteten

Während der Fahrt an einen sicheren Ort dokumentieren unsere Teams an Bord Geschichten der Geretteten – eine wichtige Aufgabe, um die Schicksale der Überlebenden zu bezeugen und ihnen Sichtbarkeit zu verschaffen. Eine Auswahl verschiedener Erzählungen finden Sie hier ([STIMMEN DER GERETTETEN]).

Zeitvertrieb

Da es oft mehrere Tage dauert, bis den Geretteten ein sicherer Ort zugewiesen wird, an dem sie an Land gehen können, haben wir Spiele, Papier, Stifte, Instrumente etc. an Bord, um die Zeit zu vertreiben, das Erlebte zu verarbeiten und um die Freude über einen sicheren Ort zum Ausdruck zu bringen (Bild).

Julia, Communications Officer auf der Ocean Viking erinnert sich z.B. an „den Künstler“:

«Nach einer Rettung erhalten alle Geretteten ein sogenanntes Rescue-Kit – darin befinden sich grundlegende Bedarfsgegenstände, darunter auch trockene Kleidung. Ein Kleidungsstück, das alle bekommen, ist ein weisses T-Shirt. Nach einem Tag an Bord fragte „der Künstler“ nach Stiften und fing an, alle T-Shirts nach den Wünschen der Leute zu dekorieren. Ich war erstaunt, wie konzentriert er war und wie es allen die Möglichkeit gab, in solch einer aussergewöhnlichen und anstrengenden Situation, eigene Vorlieben und damit die eigene Persönlichkeit zum Ausdruck zu bringen.»

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Frauen und Mädchen

Fotos: Anthony Jean / SOS MEDITERRANEE

Seit wir 2016 unsere Rettungseinsätze im Mittelmeer aufgenommen haben, kam die Crew von SOS MEDITERRANEE insgesamt über 5.000 Frauen zu Hilfe. Wie viele Frauen in dieser Zeit auf dem Meer ums Leben gekommen sind, kann niemand sagen. Frauen und Mädchen auf der Flucht und auf den überladenen Booten sind besonders vielen Gefahren ausgeliefert. Die 17-jährige Esther* hat mit uns geteilt, was ihr auf der Flucht alles passiert ist (Erzählung). Die ganze Erzählung finden Sie hier.

Auf der Flucht: Frauen und Mädchen als Opfer von Menschenhandel und sexueller Gewalt

Die Aussagen der Geretteten über das Schicksal der flüchtenden Frauen in libyschen Gefängnissen und Lagern stimmen in einem Punkt überein: Die meisten der geretteten Frauen haben dort wiederholt sexuelle Gewalt erfahren. Viele Kinder sind in libyschen Gefängnissen geboren, bzw. aufgewachsen. 2017 hat die Aquarius 102 Rettungseinsätze durchgeführt, in denen laut unserem ehemaligen medizinischen Partner Ärzte ohne Grenzen 130 Fälle von sexuellem Missbrauch dokumentiert wurden.[1] Die Gewalt, die den Frauen und Mädchen angetan wurde, hat in vielen Fällen sichtbare körperliche Spuren und unsichtbare psychische Schäden hinterlassen. Eine Hebamme an Bord der Aquarius berichtete 2017:

«Eine der Frauen erklärte mir, dass man sie mehrmals mit dem Lauf einer Kalaschnikow vergewaltigt habe. (…) Ich habe diese oder ähnliche Aussagen viele Male gehört, aber ich kann mich nicht daran gewöhnen. Manche Frauen sind so schlimm misshandelt worden, dass sie den Unterschied zwischen freiwilligem Geschlechtsverkehr und einer Vergewaltigung nicht mehr kennen.»[2]

Auf dem Boot: Frauen und Kinder riskieren Erstickungstod

Seit Beginn der Einsätze haben unsere Rettungsteams beobachtet, dass den flüchtenden Frauen eine besondere Position an Bord der Schlauchboote zugeteilt wird. Sie befinden sich in der Regel in der Mitte, also im Inneren, der Schlauchboote. Nach Aussagen, die an Bord unserer Rettungsschiffe gesammelt wurden, werden die Frauen von den Männern an Bord so weit weg vom Wasser wie möglich platziert, um sie vor dem Ertrinken zu schützen. Jedoch wird gerade diese Position von den Seenotretter*innen als besonders gefährlich eingestuft, denn die Personen in der Mitte des Bootes sind dem auslaufenden Benzin ausgesetzt, das sich, vermischt mit Salzwasser, in eine giftige, hautverätzende Substanz verwandelt. Viele der Boote haben schlecht gearbeitete Holzböden, deren austretende Nägel zusätzliche Verletzungen hervorrufen. Wenn Wasser in die Boote eindringt, bricht schnell Panik aus, denn die meisten Schiffbrüchigen können nicht schwimmen. Dann sind es die Personen, die in der Mitte des Bootes sitzen, die in dem Gedrängel als erste, ersticken, zu Tode getrampelt werden oder noch im Boot im kniehohen Wasser ertrinken.

An Bord: Das „Shelter“ – Ein Zufluchtsort im Zufluchtsort

Die Ocean Viking verfügt über einen speziellen Bereich zur Aufnahme von Frauen und Kindern: das sogenannte „Shelter“ (Englisch für Zuflucht, Obdach). Sobald sie an Bord kommen, können sie dort ihre Kleidung wechseln, etwas essen, sich ausruhen und medizinische Hilfe in Anspruch nehmen. Dieser Raum garantiert Frauen und unbegleiteten Minderjährigen Schutz und bietet ein sogenannter «safe space», wo sie frei über ihre Erfahrungen sprechen können.

Auf dem Bild ist der Freudenausbruch der Frauen im „Shelter“ zu sehen, als sie erfahren, dass ihnen einen sicheren Ort zur Anlandung zugewiesen wurde. Während eines anderen Einsatzes gelang es dem Journalisten an Bord, den Freudegesang der Frauen aufzunehmen, als sie über die Zuweisung eines sicheren Ortes erfuhren:

Dank einer Hebamme an Bord werden Frauen, insbesondere Schwangere, zudem speziell betreut. Seit 2016 halfen Hebammen sechs Frauen bei der Entbindung ihrer Babys an Bord der Aquarius. Zu den Beratungen in der Hebammenklinik an Bord gehören auch die Schwangerenvorsorge, die Behandlung von den Folgen von sexueller Gewalt, sowie die Behandlung von Kindern und die Gynäkologie.

 

[1] “Sexual violence and sex trafficking – at home, en route, in Libya and in Europe. Nigerian women and girls along the central Mediterranean migration route”, MSF, Januar 2018.
[2] “Le calvaire des mères”, SOS MEDITERRANEE, 11/12/2017, http://www.sosmediterranee.fr/journal-de-bord/lecalvaire-des-meres-de-la-mediterranee.

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Jugendliche und Kinder

Fotos: Yann Levy und Kenny Karpov / SOS MEDITERRANEE

Unter den Flüchtenden, welche sich auf den gefährlichen Weg über das zentrale Mittelmeer machen, befinden sich viele Jugendliche und Kinder, die aussergewöhnliche und oft sehr belastende Erlebnisse hinter sich haben. Dass sie vor allem junge Menschen sind, wie Kinder und Jugendliche in Europa oder anderswo auch, darf nicht vergessen werden. Auf der Ocean Viking können sie sich oft zum ersten Mal, seitdem sie von zu Hause aufgebrochen sind – manchmal seit Jahren – in Sicherheit fühlen. „An Bord erlebt man manchmal, wie sich ihr Wunsch, wieder Kind zu sein, plötzlich Bahn bricht: Dann taucht bei diesen Jugendlichen auf einmal etwas Verspieltes, Verrücktes oder Leichtes auf“, freut sich Seenotretter Alessandro.

Fast ein Viertel der Geretteten, die wir an Bord unserer Rettungsschiffe Aquarius und Ocean Viking hatten, waren minderjährig. Die grosse Mehrheit war allein unterwegs.

Warum haben sie ihre Länder verlassen?

Die Geschichten der minderjährigen Geretteten sind alle unterschiedlich, die Realität ist kompliziert und die Gründe für ihre Flucht vielschichtig. In ihren Heimatländern sind sie oft grossen Ungerechtigkeiten und Gefahren ausgesetzt. Die Jugendlichen nehmen enorme Risiken auf sich, um dieser Situation zu entfliehen, über äusserst gefährliche Fluchtrouten, die sie oft durch mehrere Länder und lebensbedrohliche Wüsten führen. Minderjährige, die über Libyen geflohen sind und dann von SOS MEDITERRANEE gerettet wurden, berichten von schmerzvollen Erfahrungen, die sie vor ihrer Flucht und unterwegs erlitten haben.

Abdi und Hamza* erzählen, warum sie ihr Land verlassen mussten (Erzählung).

Risiken auf der Flucht

Laut ihrer eigenen Aussagen war für manche der von SOS MEDITERRANEE geretteten Minderjährigen beim Verlassen ihres Landes Europa gar nicht das Ziel. Wenn sich die jungen Menschen auf den Weg machen, steht ihr endgültiges Ziel nicht immer bereits fest, es kann sich unterwegs ändern. Für viele ist aber dann die Überfahrt nach Europa auf einem seeuntüchtigen Boot der einzige Ausweg aus der „libyschen Hölle“, wie die Geflüchteten ihre Lebensumstände in Libyen nennen. Eins jedoch ist sicher: Sie nehmen auf ihrer Reise hohe Risiken in Kauf und wissen, dass sie unterwegs sogar ihr Leben verlieren können. Unterwegs werden sie oft Opfer von Diebstählen, Zwangsarbeit oder unbezahlter Arbeit, Entführungen, Haft, physischer oder sexualisierter Gewalt und Folter. Sie haben ausserdem keinen oder nur ungenügenden Zugang zu Nahrung und medizinischer Versorgung. Die Fluchtrouten der Minderjährigen führen durch Gebiete, in denen Menschenhändlernetzwerke aktiv sind: Ein Bericht der Internationalen Organisation für Migration (IOM) aus dem Jahr 2020[1] belegt, dass die allein reisenden Jugendlichen von Menschenhändlern abhängig und ihnen schutzlos ausgeliefert sind. Um ihre Weiterreise zu finanzieren, begeben sich Minderjährige oft in gefährliche Situationen.

Mehr über unbegleitete Minderjährige auf der Flucht übers Mittelmeer erfahren Sie in unserem Bericht „Schiffbrüchige Jugend: Augenzeugenberichte von unbegleiteten Minderjährigen auf der Flucht – gerettet von der Aquarius und der Ocean Viking“ (zur vollständigen Publikation).

[1] https://publications.iom.int/books/migration-west-and-north-africa-and-acrossmediterranean

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Medizinische Hilfe und Covid-Massnahmen

Fotos: Anthony Jean / SOS MEDITERRANEE

Medizinische Hilfe an Bord

Das medizinische Team an Bord der Ocean Viking besteht aus vier zertifizierten, medizinischen Fachkräften: Arzt / Ärztin, zwei Krankenpfleger*innen, eine Hebamme, ein*er medizinische*n Teamleiter*in.

Die Ocean Viking verfügt über ein spezielles medizinisches Modul an Bord, das für die spezifischen Zwecke der medizinischen Versorgung installiert wurde. Das Modul besteht aus zwei voll ausgestatteten Beratungs- und Betreuungsräumen, einer Krankenstation für bis zu sechs Patient*innen und einem Bereich für die Lagerung von Medikamenten und Verbrauchsmaterialien. (Bild)

Das medizinische Team kümmert sich um den allgemeinen Gesundheitszustand der Geretteten an Bord: Ihr Gesundheitszustand ist oft schlecht, nachdem sie Monate – oder sogar Jahre – den Bedingungen in den libyschen Gefangenenlagern und extremer Gewalt ausgesetzt waren. Es gibt viele Fälle von Schuss- oder Stichwunden, Mehrfachbrüchen, Folterspuren, Hautkrankheiten und Atemwegsinfektionen (Bild). Einige der Geretteten können sich in einer gesundheitlichen Notlage befinden und eine Herz-Lungen-Wiederbelebung (CPR) benötigen, nach stundenlangem Aufenthalt im Wasser an Unterkühlung oder an Hautverbrennungen leiden, die durch die Mischung aus Meerwasser und Treibstoff in den Booten verursacht wurden.

Bei kritischen Rettungseinsätzen, bei denen sich mehrere Personen im Wasser befinden, und/oder bei mehreren medizinischen Notfällen, sind alle Mitglieder des Ocean Viking-Teams damit beauftragt, Erste Hilfe zu leisten. Die gesamte Besatzung durchläuft eine umfassende Ausbildung für einen so genannten «Massenanfall von Verletzten» („Mass Casualty Plan“).

In schwereren medizinischen Fällen, die an Land behandelt werden müssen, entscheidet das Ärzteteam, ob das Schiff eine medizinische Evakuierung per Hubschrauber oder Schnellboot an Land anfordert. Das medizinische Team ist auch für die medizinische Versorgung der Crew der Ocean Viking zuständig.

Psychologische Ersthilfe (Bild)

Das medizinische Team und die Leitung des Pflegeteams leisten an Bord psychologische Ersthilfe. Viele der Geretteten erzählen von Folter und Misshandlung, die sie während ihrer Zeit in den libyschen Gefangenlagern erfahren haben. Viele der Männer und Frauen, die wir retten, haben sexuelle Gewalt erlebt.

Die Leiter*in des Pflegeteams ist die zentrale Anlaufstelle für Schutzaktivitäten. Er oder sie fungiert als Kulturvermittler*in und koordiniert die Datenerhebung der Geretteten unter Einhaltung der Vertraulichkeitsregeln. Um sicherzustellen, dass die Geretteten nach der Ausschiffung die notwendige Versorgung und den humanitären Schutz erhalten, stehen die Leitung des Ärzte- sowie des Pflegeteams mit Organisationen und Gesundheitsbehörden an Land in Verbindung.

Im Juni und Juli 2020 war Anne beim ersten Einsatz der Ocean Viking mit einem voll integrierten, eigenen SOS MEDITERRANEE-Ärzteteam als Ärztin an Bord. Bei diesem Einsatz wurde die psychische Not einer Gruppe von Überlebenden so stark, dass einige von ihnen einen Suizidversuch unternahmen und sich selbst und anderen Schaden zuzufügen drohten. Daraufhin unternahm das Team an Bord den beispiellosen Schritt, den Notstand auf dem Schiff auszurufen. (Erzählung) Das ganze Interview mit Anne finden Sie hier.

Covid-Massnahmen

Anfang 2020 mussten wir strikte Hygienekonzepte ausarbeiten und viele neue Schutzmassnahmen etablieren. Dahinter stand – und steht ebenso noch heute – ein enormer logistischer Aufwand:

  • Wir befolgen strenge Präventivmassnahmen, um das Ansteckungsrisiko für die Besatzung auf ein Minimum zu reduzieren. So begibt sich das gesamte Team vor der Abfahrt in Selbstisolation und wird vor Betreten des Schiffes auf Covid-19 getestet.
  • An Bord werden spezifische Protokolle umgesetzt, Gesichtsschilder, medizinische Masken und Schutzanzuge gehören von nun an zur Ausrüstung unserer Retter*innen und unseres medizinischen Teams (Bild). Auch die Geretteten müssen Masken tragen.
  • Des Weiteren werden die Menschen an Bord ständig beobachtet, um symptomatische Verdachtsfälle so früh wie möglich zu erkennen. Hierzu gehört das tägliche Fiebermessen aller.
  • Zudem ist eine Isolierung an Bord der Ocean Viking für Personen möglich, die Anzeichen und Symptome von COVID-19 aufweisen. Das medizinische Team von SOS MEDITERRANEE ist dafür qualifiziert, die notwendige Versorgung der Kranken unter Anwendung strenger Quarantäneverfahren zu gewährleisten.
  • Seit Mitte 2020 wurden bisher alle Geretteten sowie die Crew an Bord von den italienischen Gesundheitsbehörden auf das Corona-Virus getestet, bevor die Geretteten von Bord gehen konnten.

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Portraits

Fotos: Kenny Karpov und Isabelle Serro / SOS MEDITERRANEE

 

Die Gründe, weshalb Menschen aus ihrer Heimat fliehen, sind vielfältig.  Jede geflüchtete Person hat eine eigene Geschichte und individuelle Gründe, welche ihn/sie zur Flucht gezwungen haben. Oft sind es Krieg und Gewalt, die Menschen dazu zwingen, ihre Heimat zu verlassen. Doch auch andere Gründe wie Menschenrechtsverletzungen, Armut oder die Folgen des Klimawandels treiben Menschen zur Flucht. Lesen Sie die individuellen Geschichten von Geretteten an Bord der Aquarius und der Ocean Viking, in dem Sie auf die Verlinkungen im untenstehenden Text klicken.

Krieg und Gewalt

Bürgerkriege, bewaffnete Konflikte oder Gewalt durch Terrormilizen machen ein normales Leben oftmals unmöglich. In den meisten fällen richtet sich die Gewalt auch gezielt gegen Zivilisten und führt zur kompletten Zerstörung der Lebensgrundlage dieser Menschen.

Gerettete an Bord der Aquarius und der Ocean Viking sind vor Krieg und Gewalt aus Ländern wie Somalia, Nigeria, Südsudan, Kamerun und auch Libyen geflüchtet. Auch wenn ihre Geschichten unterschiedlich sind, haben sie alle etwas gemeinsam: Sie mussten ihre Heimat verlassen, um sich und ihre Familien in Sicherheit zu bringen.

Menschenrechtsverletzungen

Viele Menschen fliehen aus ihrer Heimat, um Schutz vor Verfolgung und Menschenrechtsverletzungen zu finden. Oft werden Menschen aufgrund ihrer Religion, ethnischen Zugehörigkeit, sexueller Orientierung, ihres Geschlechts oder politischen Überzeugung diskriminiert oder gar verfolgt.

Junge Mädchen, die an Bord unserer Rettungsschiffe waren, haben uns erzählt, wie sie vor Zwangsheirat, Genitalverstümmelung und häuslicher Gewalt aus ihrer Heimat geflohen sind. Auch Maimouna*, 17 Jahre alt, wurde als kleines Mädchen beschnitten. Bis heute leidet sie unter den Folgen des Eingriffes. Um ihre Tochter vor dem selben Schicksal zu beschützen, hat sie mit ihrem Mann die Elfenbeinküste verlassen. Ihre ganze Geschichte können Sie hier nachlesen.

Auch in Libyen sind Menschen, und insbesondere Migrantinnen und Migranten, massiven Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt. Willkürliche Inhaftierungen, sexuelle Übergriffe, Zwangsarbeit und Sklaverei stehen an der Tagesordnung.[1] Moussa* wurde im November 2019 von der Crew auf der Ocean Viking gerettet, nachdem er in Libyen willkürlich inhaftiert und gefoltert wurde: „Sechs Monate war ich dort eingesperrt, wurde mit Stromschlägen gefoltert und wiederholt geschlagen. Erst als ich genug Geld aufbringen konnte, wurde ich frei gelassen.“ Andere erzählten über die Gefangenlager in Libyen:  „Sie haben uns nichts zu essen gegeben. Nur salziges Wasser. Wir wurden endlos geschlagen und gefoltert, bis unsere Eltern Geld schickten, damit wir freigelassen werden.“

Auch Vergewaltigungen und sexualisierte Gewalt, insbesondere gegen Frauen, sind in libyschen Gefangenenlagern an der Tagesordnung, wie uns Aya*, 22 Jahre alt, nach ihrer Rettung im März erzählte: „Frauen werden in eine Ecke gebracht, wo sie manchmal sogar von zwei bis drei Personen gleichzeitig vergewaltigt werden. Dann werfen sie sie zurück in eine Zelle. Ich habe gesehen, wie Frauen gingen und zurückkamen. In Gefängnissen sind Vergewaltigungen an der Tagesordnung. Und oft wollen sie es mit der gleichen Frau tun… damit es dasselbe wie gestern ist.“

Um diesen menschenrechtswidrigen Umständen zu entkommen, bleibt den Menschen nur der gefährliche Weg über das Mittelmeer nach Europa.

[1] https://www.ohchr.org/Documents/Countries/LY/DetainedAndDehumanised_en.pdf

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*Die Namen wurde geändert, um die Anonymität der Geretteten zu wahren.


Wir hoffen, dass wir Ihnen die Seenotrettung und die Menschen, die über das Mittelmeer fliehen mussten, auf diesem Foto-Weg näherbringen konnten.

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