Logbuch

[STIMMEN DER GERETTETEN] „Bevor das Boot kam, dachte ich daran, ins Meer zu springen.“

Saïd* ist „16, 17, so in etwa“. Wir trafen uns an Deck der Ocean Viking. Schon bevor wir uns tatsächlich unterhielten, waren wir einander an Bord begegnet und hatten Höflichkeiten miteinander ausgetauscht. Aber als ich in dieser Nacht das Deck betrat, gingen die meisten der geretteten Menschen bereits schlafen. Saïd war die einzige Person, die sich noch nicht in eines der Shelter zurückgezogen hatte.

Zuerst sprachen wir über die kleinen Dinge: Er fragte, welche Bilder ich in den letzten Tagen veröffentlicht hätte, wo ich herkäme und dann: wann er und die anderen Geretteten von Bord gehen könnten. Danach wendete sich das Gespräch und mir wurde klar, dass ich nicht mehr hier war, um Fragen zu beantworten, sondern um zuzuhören.

„Das Leben ist nicht einfach“, begann der Junge. Er wiederholte den Satz, blickte zum Horizont. Er versuchte nicht, sich zu erklären oder mich zu überzeugen. Er stellte es lediglich fest.

„Was in Libyen passiert ist, kann man kaum erklären. Wenn es mir gut geht, hoffe ich, dass mir ein Journalist ein Mikrofon gibt, damit ich alles erzählen kann. Ich hoffe, dass ich an große Tische geladen werde, um all das zu berichten, was mit mir und meinen Brüdern passiert ist. Aber jetzt kann ich das nicht… weil es mir nicht gut geht, weißt du?“ Ich nickte. Ich verstand. Die zwei bis drei Zentimeter lange Narbe auf seiner rechten Augenbraue sprach für sich. Eine noch größere Narbe auf seinem rechten Knie und die vielen Spuren auf seinem linken Bein zeugen von der Gewalt, die er erlitten hat. Saïd hatte Guinea 2016 im Alter von 13 oder 14 Jahren verlassen. Er erzählte mir nicht genau, wie er es nach Libyen geschafft hatte. „Manchmal mit dem Auto, manchmal mit dem Bus“, sagte er. Er weiß nicht mehr, welche Länder er durchquert hat oder wann er in Libyen angekommen ist.

„Ich weiß nicht genau, wie lange ich in Libyen war. Nachdem ich Guinea (Conakry) verlassen hatte, verbrachte ich sechs bis acht Monate in einem Gefängnis. Ich weiß nicht, wo“, sagte er und sah mich zum ersten Mal direkt an.

„Ich habe schon sehr lange nicht mehr mit meiner Mutter gesprochen, weißt du? Das ist mit das Schlimmste. Sie ist über 70 Jahre alt. Sie wird müde. Ich bin ihr einziges Kind. Zu wissen, dass sich niemand um sie kümmert, ist nur schwer auszuhalten. Deshalb habe ich Guinea überhaupt verlassen… um einen Job zu finden und ihr etwas Geld schicken zu können.“ Er hörte auf zu reden.

„Wenn ich bald mit ihr sprechen könnte, nachdem wir das Schiff verlassen haben, das wäre schön; es wird so sein, als würde ich sie mit meinen beiden Augen sehen. Hoffentlich wird es Wirklichkeit.“

„Ich habe Schlafprobleme. Ich habe noch nicht realisiert, dass ich nicht mehr in Libyen bin. Manchmal vergesse ich es, aber wenn ich mich umschaue und überall den Schriftzug von SOS MEDITERRANEE sehe – wie auf deinem T-Shirt – oder wenn ich einen Europäer wie dich sehe, fühle ich mich besser. Ich weiß, dass ich nicht mehr in Libyen bin. Aber dann vergesse ich es wieder. Ich zweifle sehr an mir selbst. Seitdem ich eingesperrt war, habe ich nicht mehr wirklich geschlafen. In Libyen werden Menschen ohne Grund getötet. Wenn dich jemand ansieht und du auch nur ein Wort sagst, kann er dich erschießen. So viele Tote… so viele Verwundete. Wir sind in Libyen keine Menschen mehr. Ich kann nicht erklären, was passiert ist. Ich verstehe es selbst nicht.“

„Hast du Neuigkeiten von der Josefa**? Gott sei Dank waren sie da. Bevor sie ankamen, dachte ich daran, ins Meer zu springen. Das kleine Schlauchboot, in dem wir uns befanden, begann sich mit Wasser zu füllen, der Motor funktionierte nicht mehr richtig. Ich habe sogar dreimal geweint. Ich fürchte um meine Brüder, die immer noch in Libyen gefangen sind. Was wird mit ihnen geschehen? Ich bin jetzt in Sicherheit, aber was passiert mit ihnen? Werdet ihr weiterhin Menschen retten?“

Saïds Traum ist es, zur Schule zu gehen und später Fußballer zu werden: die Nummer 10, in der Mitte. „Es ist mein Traum, seit ich klein war. Vielleicht werde ich auch Politiker“, sagt er.

(ENDE)

Interview: Laurence Bondard, Communication Officer an Bord der Ocean Viking // September 2019

*Der Name wurde geändert, um die Anonymität des Geretteten zu wahren.
** Die Josefa ist ein Segelboot, das von der Seenotrettungsorganisation ResQship betrieben wird. Das Team von SOS MEDITERRANEE hatte 34 Menschen von der Josefa an Bord der Ocean Viking genommen.