Logbuch

[BORD-TAGEBUCH] „Vor unserer Haustür“

­­Michael war von August bis Oktober als Seenotretter auf dem Rettungsschiff Ocean Viking von SOS MEDITERRANEE. Er war auch dabei, als die Ocean Viking im August mit 355 Überlebenden an Bord 14 Tage lang auf einen sicheren Hafen warten musste. Jetzt ist er zurück an Land und schaut auf seine Erfahrung an Bord zurück.

 

Vor unserer Haustür

Vor meiner Haustür liegt die Ostsee. Vor den Türen Europas das Mittelmeer.

Meine Semesterferien habe ich auf der Ocean Viking verbracht. Mein Leben ist eigentlich ­ganz normal. Trotzdem führt es mir häufig vor Augen, mit wie viel Glück die Privilegien, die ich geniesse, verbunden sind.

Glück ist keine Leistung. Geburtsort und Staatsangehörigkeit sind es auch nicht. Ich habe erlebt, wie geflüchtete Menschen auch hier in Deutschland noch unter dem Erlebten litten, wie unreflektiert und selbstgefällig die Situation dieser Menschen aufgefasst und kommentiert wird und welches politische Handeln daraus folgt. Es kotzt mich an. Ich habe diskutiert und die Entwicklung der Situation beobachtet. Aber am Ende des Tages kam ich mir ziemlich hilflos vor.

Die Menschen zu unterstützen, die dieser Resignation mit Solidarität begegnen, die nicht wegsehen, sondern handeln wollten, erschien mir irgendwie logisch. So schrieb ich den Seenotrettungsorganisationen „wenn ihr ne Hand braucht und glaubt, meine könnte passen, dann sagt Bescheid“.  So landete ich 2017 eher zufällig auf der Iuventa, dem Rettungsschiff von Jugend Rettet, und erlebte prompt, wie viele vermeintlich europäische Werte dem Ziel der Migrationskontrolle im zentralen Mittelmeer untergeordnet wurden und so vollends über Bord gingen. Völlig nachrangig, das Sterben zu verhindern. Stattdessen Kriminalisierung, Durchsuchung, Beschlagnahme von Rettungsschiffen. Eine grosse deutsche Wochenzeitung titelt: „Oder soll man es lassen?“

Zeitgleich werden europäische Rettungsbestrebungen nach und nach eingestellt und die libysche Küstenwache aufgebaut. Die Zahlen für Ankünfte in Europa sanken, die Todesrate stieg. Was in Libyen passiert, ist hinlänglich bekannt und doch scheint es so, als gäbe es in Europa den Konsens, dies als unangenehme Randerscheinung hinzunehmen und nebenbei mit leeren Worthülsen die eigene Menschlichkeit zu betonen.

Ich habe eine Meinung zum Thema, aber zu sagen, ich durchschaue die Hintergründe von Flucht und Migration in Gänze, ginge zu weit. Aber muss ich das? Nein. Denn in dem Moment, wo Minderjährige ihr Leben riskieren und uns sagen, „es war in dreieinhalb Jahren Libyen der sechste Versuch, das Land zu verlassen, und jedes Mal wäre ich lieber im Meer gestorben, als dorthin zurückzugehen“, steht diese Aussage für sich. In dem Moment, wo das Meer für eine Mutter und ihr vier Tage altes Neugeborenes sicherer ist als das Land, sagt das Vieles. In dem Moment, wo junge Menschen unzählige Narben von brennendem Plastik, Zigaretten, Kugeln, Schlägen und Messerschnitten tragen, mehr versehrte, als heile Haut haben, kann das, was im Mittelmeer und Drumherum passiert, nicht mehr als eine Randerscheinung hingenommen werden.

In dem Moment, in dem man diese Boote sieht und weiss, auf welch dünnwandigem Gummi diese Menschen treiben, geht es nicht um grosse Debatten. Es geht darum, wer wir sein wollen und ob wir wirklich wegsehen wollen, während wir wissen, dass an unserer Türschwelle Menschen ertrinken.

Ich will nicht hinnehmen, dass unsere Gesellschaften lieber kurzfristigen Scheinlösungen hinterherlaufen, als anzuerkennen, dass es so einfach nicht sein kann und Menschen trotzdem fliehen werden. Einfach und bequem ist nichts an dieser Debatte. Aber wer es mit den Menschenrechten ernst meint, kann diese Situation nicht ignorieren, nur weil es vermeintlich keine bessere Lösung gibt.

Eine ordentliche Portion Idealismus?

Ein in Darfur aufgewachsener junger Mann malte an Bord der Ocean Viking ein Bild, in dem er die verschiedenen Organe des menschlichen Körpers beschriftete und ihre Aufgaben darstellte. Er hatte in seinem Leben viel mit NGOs zu tun und darüber sein Interesse an der Medizin entdeckt. Einiges, was er an Wissen zusammentrug, bannte er in diesem Bild. Wir unterhielten uns zufällig, als er, ohne dass ich es ansprach, erwähnte, dass ein Medizinstudium in Deutschland sein Traum sei. Was für ein bitterer, ironischer Zufall für mich, der ich Medizin studiere. Gut, Europa half uns mit 14 ziellosen Tagen auf See, um inmitten von 380 anderen Menschen in dieses Gespräch zu stolpern, dennoch zeigte es mir sehr eindrücklich, welchen Anteil Glück am Erreichen eines Traumes hat. Wir haben den Gleichen, aber ich konnte ihn ohne grosse Hürden erfüllen.

Auch während wir im Einsatzgebiet waren, ertranken Menschen. Ich habe in diesen Tagen oft versucht, das alles ins Verhältnis zu setzen. In meinen Kopf zu bekommen, dass der Mann aus Darfur einer der namenlosen Ertrunkenen hätte sein können, die nicht gerettet werden konnten. Dass er es hätte sein können, der am 20. September im Hafen Tripolis von Bewaffneten erschossen wurde, nachdem die libysche Küstenwache ein Boot mit Flüchtenden abgefangen und nach Libyen zurückgebracht hatte[1]. Zurück an einen Ort, der uns von europäischen Staaten als Ort verkauft wird, an den Menschen, die Schutz und Sicherheit suchen, guten Gewissens zurückgebracht werden können. Durch eine Küstenwache, die von Europa bezahlt, ausgebildet und ausgerüstet wird. Eine Küstenwache, die mitunter enge Verbindungen zu denen zeigt, die Profit aus dem Elend der Menschen schlagen, sie misshandeln und mit ihnen handeln.[2]

Die libysche Küstenwache fängt Flüchtende auf hoher See ab und zwingt sie gegen ihren Willen zurück nach Libyen. In das Land, aus dem sie unter Einsatz ihres Lebens geflohen sind. Und in dem das Auswärtige Amt über die dort existierenden privaten „detention centers“ berichtet, dass die Situation „KZ-ähnlichen Verhältnissen entspräche“.  Schwer zu fassen, dass nun sie es sein soll, die offiziell in internationalen Gewässern die Lage kontrolliert und koordiniert. Und zwar mit einer über verschiedene Kanäle kaum erreichbaren, den Anforderungen nicht entsprechenden Seenotrettungsleitstelle.[3] Hier zeigt sich erneut, wie komplex die Lage ist. Eines ist jedoch klar: Es ändert nichts daran, dass man Menschen in Seenot die Hand reichen muss und nicht billigend in Kauf nehmen darf, dass sie ertrinken. Doch genau das passiert. Europa schaut weg und die Menschen sterben.

Was bleibt?

Von Anfeindungen bis Zuspruch. Von Schleppervorwürfen bis zu unpassenden Heldenbekundungen. Mir hat der Hass, den einige Leute in der Anonymität des Internets abluden, ziemlich viel Kraft gegeben. Ihr Hass auf unsere Arbeit vor den Toren Europas, hat mich nur weiter darin bestärkt, dass dieses Handeln verdammt richtig ist. Und genau deshalb ist es so wichtig und uneingeschränkter Unterstützung wert, dass Schiffe wie die Ocean Viking, zusammen mit Menschen, denen die Situation im Mittelmeer nicht egal ist, vor Ort sind.

Was zivile Seenotrettungsorganisationen im Mittelmeer tun, ist der verzweifelte Versuch, angesichts der Entwicklungen der letzten Jahre nicht zu schweigen; das Mittelmeer nicht getreu dem Motto „aus den Augen, aus dem Sinn“ zur Blackbox werden zu lassen. Das ist in diesen Tagen, in denen auch das Augenmerk auf das Thema schwindet, wichtiger denn je. Dass die Ocean Viking, von SOS MEDITERRANEE und Ärzte ohne Grenzen derartig professionell betrieben, als ziviles Rettungsschiff dort eine so wichtige und doch nicht ansatzweise ausreichende Funktion erfüllt, sagt eigentlich am meisten über die Situation.

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Text: Michael – Rettungsteammitglied von SOS MEDITERRANEE
Photo credits: Laurence Bondard / SOS MEDITERRANEE

[1] https://www.infomigrants.net/en/post/19647/sudanese-migrant-dies-in-shooting-after-being-returned-to-libya

[2] https://www.theguardian.com/world/2018/jun/08/un-accuses-libyan-linked-to-eu-funded-coastguard-of-people-trafficking

[3] https://www1.wdr.de/daserste/monitor/videos/video-die-sog-libysche-kuestenwache-die-unerreichbaren-retter-100.html