Logbuch

Einsatzzyklus seit dem 22. Juni 2020: 180 Gerettete von Bord gegangen – Ocean Viking auf Sizilien festgesetzt

Zusammenfassung

SOS MEDITERRANEE nimmt den lebensrettenden Einsatz im zentralen Mittelmeer wieder auf. Am 22. Juni 2020 hat die Ocean Viking von Marseille aus Kurs auf das Einsatzgebiet in internationalen Gewässern vor der libyschen Küste genommen. Die Situation vor Ort bleibt – auch in Zeiten einer Pandemie – kritisch. Menschen fliehen weiterhin auf nicht seetauglichen Booten aus dem Bürgerkriegsland Libyen, um in Sicherheit zu gelangen.

Am Donnerstag, dem 25.06.2020, werden bei zwei Einsätzen 118 Menschen aus Seenot geborgen. Am 26. 06.2020 suchten die Teams nach einem Boot, das in Gewässern vor Misrata in akuter Notlage war und am darauffolgenden Tag von der libyschen Küstenwache nach Libyen zurückgezwungen wurde. Sonntagmorgen fragte SOS MEDITERRANEE bei den zuständigen Behörden um einen sicheren Ort zur Ausschiffung der Überlebenden an – ohne Antwort. Am Mittwoch, den 30. Juni 2020, führte die Teams von SOS MEDITERRANEE zwei weitere Einsätze in der maltesischen Such- und Rettungszone durch. Damit befinden sich insgesamt 180 gerettete Kinder, Frauen und Männer an Bord der Ocean Viking.

Seit mehr als einer Woche wartet die Hälfte der Geretteten darauf, endlich an einem sicheren Ort von Bord gehen zu können. Die Unsicherheit sind eine zusätzliche Belastung, viele der Menschen an Bord sind unruhig und  äusserst erschöpft – körperlich und seelisch. Am Donnerstag, den 02. Juli 2020, sprangen zwei Menschen über Bord. Weitere äusserten Selbstmordabsichten.

Nach sechs Selbstmordversuchen Geretteter innerhalb von 24 Stunden und sieben ergebnislose Anfragen um die Zuweisung eines sicheren Ortes, wurde gestern Nachmittag der Notstand an Bord der Ocean Viking ausgerufen. Die Situation auf dem Schiff hat sich so zugespitzt, dass die Sicherheit der 180 Überlebenden und der Besatzung nicht mehr gewährleistet werden kann. 

Samstagmittag kam ein italienisches Ärzteteam an Bord, um gemeinsam mit dem medizinischen Team von SOS MEDITERRANEE, eine Einschätzung der Situation an Bord vorzunehmen. Fast 24 Stunden nach Ausrufung des Notstandes wurde immer noch kein sicherer Hafen zugewiesen.

Sonntagmittag führen italienische Behörden Covid-19-Tests an Bord durch. Am Nachmittag erhält SOS MEDITERRANEE die Nachricht, nach Porto Empedocle, Sizilien, weiter fahren zu können, wo die Ocean Viking Montagmorgen eintrifft. Seit 07:00 Uhr früh warteten die Teams auf weitere Instruktionen. Erst nach einem Tag Warten begann um Mitternacht die Ausschiffung aller 180 Überlebenden. Sie wurden zur Passagierfähre Moby Zazà gebracht, um Berichten zufolge eine Quarantäne zu beginnen.

Die Medien berichten, dass alle COVID-19-Tests der Überlebenden negativ waren. Die Ocean Viking wurde dennoch informiert, dass die Besatzung für 14 Tage in Quarantäne gehen soll. Gemäss den Anweisungen liegt das Schiff nun ausserhalb des Hafens von Porto Empedocle vor Anker.

Nach Beendigung der Quarantäne, setzen die italienischen Behörden, am Abend des 22. Juli, die Ocean Viking in Porto Empedocle fest. Der angegebene Hauptgrund nach einer elf stündigen Inspektion: Das Schiff habe mehr Personen befördert, als die Anzahl, für die es zertifiziert ist. Dieses Argument ist zynisch und widerspricht internationalem Seerecht, das besagt: Personen, die aus Seenot gerettet werden, sind Überlebende und dürfen niemals als Passagiere betrachtet werden.

Die Ocean Viking ist damit das vierte zivile Rettungsschiff, das innerhalb von 3 Monaten wegen angeblicher Sicherheitsbedenken festgehalten wird. Dadurch verhärtet sich der Verdacht, dass Italien dieses Argument systematisch nutzt, um die lebensrettenden Einsätze von zivilen Seenotrettungsschiffen zu behindern.


Chronologie

22. Juni 2020: Die Ocean Viking nimmt von Marseille Kurs auf das zentrale Mittelmeer

25. Juni 2020: Während sie am 25. Juni in der Nähe von Lampedusa unterwegs war, erhielt die Ocean Viking einen Notruf. Das Such- und Rettungsteam von SOS MEDITERRANEE führte am Mittag in internationalen Gewässern in der sich überschneidenden italienischen und maltesischen Such- und Rettungsregionen eine Rettung von 51 Personen durch.

Ungefähr eine Stunde später wird die Ocean Viking auf ein anderes Boot in Seenot aufmerksam gemacht und rettet aus einem Holzboot 40 Seemeilen südlich von Lampedusa in der maltesischen Such- und Rettungszone weitere 67 Personen.

26. Juni 2020: Nach diesen beiden Rettungen beantragt die Ocean Viking am Freitagmorgen bei den maltesischen und italienischen Seebehörden gemäss den Seerechtskonventionen die Zuweisung eines sicheren Ortes für die Ausschiffung der Überlebenden. Diese Bitte wurde seither sechsmal wiederholt, ohne dass es eine positive Antwort gab.

27. Juni 2020: Die Ocean Viking sucht zwölf Stunden nach einem Boot, das vor Misrata, Libyen, in akuter Notlage ist. Am 27. Juni wird das Boot gemäss IOM Libyen von der libyschen Küstenwache abgefangen und zurück nach Libyen gebracht. An Bord ein Neugeborenes, das noch im Schlauchboot zur Welt kam. Ausserdem berichtet IOM Libyen, dass sechs Menschen starben, bevor die libysche Küstenwache das Boot erreichte.

Die Ocean Viking erhält keine Antwort auf ihre vor mehr als 24 Stunden an die italienischen und maltesischen MRCCs gerichteten Bitten um einen sicheren Ort zur Ausschiffung. Eine neue Anfrage wird gesendet (13:41h).

29. Juni 2020: Eine Antwort auf die Anfrage auf die Zuweisung eines sicheren Ortes an die italienischen und maltesischen RMCCs bleibt aus. Die Ocean Viking stellt am späten Vormittag einen dritten Antrag gestellt.

Am Montagabend ersucht die Ocean Viking um Unterstützung bei der medizinischen Evakuierung eines der Überlebenden, dessen gesundheitlicher Zustand sich verschlechtert hatte. Die Person wurde evakuiert.

30. Juni 2020: Am Dienstagabend retteten die Teams von SOS MEDITERRANEE 47 Menschen von einem Holzboot, das südlich von Lampedusa in der maltesischen SAR-Zone trieb. Aussagen der Geretteten zufolge verbrachten sie vier bis fünf Tage auf See. Alle waren stark dehydriert.

In der Nacht wurden 16 weitere Menschen unter Koordination der maltesischen Behörden aus einem Glasfaserboot sicher an Bord der Ocean Viking gebracht. Insgesamt befinden sich somit 180 Gerettete an Bord.

01. Juli 2020: Die Ocean Viking betet erneut um Zuweisung eines sicheren Ortes. Dies ist unsere 5. Anfrage seit Donnerstag.

02. Juli 2020: Zwei Menschen springen über Bord. Unsere Teams konnten sie wieder sicher auf das Schiff bringen. Eine weitere Person versuchte zu springen. Insgesamt sechs Gerettete äusserten Selbstmordabsichten. Viele Gerettete sind unruhig und äusserst erschöpft.

03. Juli 2020: In den frühen Morgenstunden versuchte ein Mann, sich zu erhängen. Weitere haben Selbstmordgedanken geäussert. Viele der Überlebenden befinden sich in grosser seelischer Not und leiden unter Depressionen. Sie befinden sich in einem Zustand akuter Erregung, die sich in heftigem Streit und körperlichen Auseinandersetzungen an Deck äussern. Es gibt Gewaltandrohungen gegen Überlebende und Besatzungsmitglieder. Mehrere Gerettete klagen über Schlaflosigkeit und der psychischen Belastung durch die Erlebnisse vor allem in Libyen und ihrer aktuellen Situation. Sie leiden darunter, ihre Familien nicht informieren zu können, dass sie noch am Leben sind. Zwei Gerettete sind heute Morgen aus Verzweiflung über ihre Situation in einen Hungerstreik getreten.

Nach sieben Anfragen nach einem sicheren Hafen in dieser Woche bei den zuständigen Rettungsleitstellen und nach sechs Selbstmordversuchen von Geretteten innerhalb von 24 Stunden ruft die Ocean Viking den Notstand an Bord aus. Die Situation auf dem Schiff hat sich so zugespitzt, dass die Sicherheit der 180 Überlebenden und der Besatzung nicht mehr gewährleistet werden kann. Es ist das erste Mal in vier Jahren Einsatz, dass SOS MEDITERRANEE diesen Schritt geht. Die europäische Seenotrettungsorganisation sah sich durch die rapide Verschlechterung des psychischen Zustands einiger der Überlebenden an Bord dazu gezwungen.

Zu unserer medienmitteilung vom 3. juli

04. Juli 2020: Das am Vortag angekündigte italienische medizinische Team kommt gegen Mittag an Bord der Ocean Viking, um gemeinsam mit dem medizinischen Team von SOS MEDITERRANEE eine Einschätzung der Situation vorzunehmen. Nach Gesprächen mit Überlebenden gehen sie wieder von Bord. Der Notstand auf der Ocean Viking besteht weiter. SOS MEDITERRANEE wartet dringend auf Anweisungen der Seefahrtbehörden zur Ausschiffung der 180 Überlebenden.

zu unserem pressestatement vom 4. Juli

05. Juli 2020: Die italienischen Behörden führen an Bord gegen Mittag COVID-19-Tests durch. Trotz Medienberichten, die die Ausschiffung der Geretteten ankündigen, erhält die Ocean Viking keine offizielle Mitteilung dazu.

Am Nachmittag: Erleichterung! Die Ocean Viking wird angewiesen, nach Porto Empedocle, Sizilien, weiterzufahren. Die 180 Überlebenden werden morgen (Montag) im Hafen von Porto Empedocle von Bord gehen.

06. Juli 2020: Seit Montagmorgen ankert die Ocean Viking – wie vom Hafenmeister angewiesen – vor Porto Empedocle, Sizilien. Seit 07:00 Uhr früh wurden keine weiteren Anweisungen erteilt. Die Spannungen an Bord nahmen wieder zu. Erst nach einem Tag warten, begann kurz vor Mitternacht die Ausschiffung der 180 Geretteten.

07. Juli 2020: Die  Ausschiffung der 180 Überlebenden endete um 3:15 Uhr morgens. Sie wurden zur Passagierfähre Moby Zazà gebracht, um Berichten zufolge eine Quarantäne zu beginnen.

Die Medien berichten, dass alle COVID-19-Tests der Überlebenden negativ waren. Die Ocean Viking wurde dennoch informiert, dass die Besatzung für 14 Tage in Quarantäne gehen soll. Gemäss den Anweisungen liegt das Schiff nun ausserhalb des Hafens von Porto Empedocle vor Anker.

22. Juli 2020: Am Mittwochabend wird die Ocean Viking, nach einer elfstündigen Inspektion im Hafen von Porto Empedocle von den italienischen Behörden festgesetzt und ist damit das vierte zivile Rettungsschiff, das innerhalb von drei Monaten von den italienischen Behörden festgehalten wird.

Der angegebene Hauptgrund: Das Schiff habe mehr Personen befördert, als die Anzahl, für die es zertifiziert ist. Dieses Argument ist zynisch und widerspricht internationalem Seerecht. Demnach sind Überlebende, die aus Seenot gerettet werden, niemals als Passagiere zu betrachten. Die internationale Vorschriften besagen, dass Schiffbrüchige nicht berücksichtigt werden dürfen, wenn die Einhaltung von Mindeststandards an Bord überprüft wird.

Nachdem die Ocean Viking festgesetzt wurde ist aktuell kein ziviles Rettungsschiff im zentralen Mittelmeer im Einsatz.

MEdienmitteilung vom 22. juli

SOS MEDITERRANEE lanciert eine Petition an die italienischen Behörden und fordert diese auf, die Ocean Viking freizugeben

Petition #freeoceanviking


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