Logbuch

[STIMMEN DER GERETTETEN] „Ich kann nicht akzeptieren, dass man das meinem Kind antut.“

Maimouna* ist 17 Jahre alt. Sie, ihr Ehemann und das gemeinsame achtzehnmonatige Kleinkind gehören zu den 274 Menschen, die während der letzten drei Einsätze der Ocean Viking am 18. und 19. Februar 2020 von der Besatzung gerettet worden sind.

„Ich bin aus der Elfenbeinküste geflohen, um meine anderthalbjährige Tochter vor der Genitalverstümmelung zu bewahren. Ich wollte nicht, dass sie dasselbe Schicksal erleidet wie ich, denn in unserer Heimat ist Beschneidung Tradition. Weil ich weiss, wie sehr man darunter leidet, habe ich der Beschneidung nicht zugestimmt. Das war nicht leicht für uns. Mein Mann wollte ebenfalls nicht, dass unsere Tochter beschnitten wird, aber auch seine Familie wollte das nicht akzeptieren.

Die Vergangenheit ist die Vergangenheit, aber heutzutage muss man es nicht mehr hinnehmen, dass Frauen beschnitten werden. Ich leide sehr darunter. Wenn ich mit meinem Mann zusammen bin, habe ich oft Schmerzen dabei. Ich will meiner Tochter so etwas nicht antun. Auch mein Mann ist gegen eine Beschneidung seiner Tochter, weil er weiss, wie sehr ich darunter leide.
Mein Mann ist ein guter Mensch. Er hat mir den Mut gegeben zu kämpfen.

Zuerst wollten wir nach Algerien, aber da wurden wir an der Grenze abgewiesen, also sind wir weiter nach Libyen. In Libyen gibt es so viele Gefängnisse! [Anmerkung: Maimouna spricht hier von den Internierungslagern.] Wir waren mehrmals im Gefängnis.

Bei unserer Ankunft habe ich meine Eltern kontaktiert. Aber sie wollten uns kein Geld schicken, um uns zu helfen, weil sie nicht damit einverstanden waren, dass wir die Beschneidung unserer Tochter verhindert hatten.

Im Gefängnis schlug man uns. Wir bekamen nicht genug zu essen. Wir haben sehr gelitten. Die Frauen wurden dort schlecht behandelt. Oft packt dich irgendein Mann, den du noch nie gesehen hast, und vergewaltigt dich. Wenn du dich wehrst, bringt er dich um. Du kannst nichts tun. Du hast keine Chance.

Oft wurde mein Mann grundlos festgenommen und musste Geld zahlen, um wieder freizukommen. Er hat viel Zeit in Gefängnissen verbracht, auch mit uns zusammen. Meist blieb man drei bis fünf Monate im Gefängnis. In Libyen konnte ich meine Tochter nicht zu Hause lassen, ich war immer mit ihr unterwegs, und so war sie auch dabei, wenn ich festgenommen wurde. Ich war dreimal mit ihr zusammen im Gefängnis.

Wenn mein Mann nicht eingesperrt war, hat er versucht zu arbeiten. Mit seinem Lohn haben wir uns aus dem Gefängnis freigekauft. Er hat auf dem Bau gearbeitet. Das musste er tun, um seine Familie zu ernähren. Für Frauen ist es in Libyen schwer, Arbeit zu finden. Aber es nicht alle Menschen in Libyen sind schlecht. Manchmal wurde mein Mann für seine Arbeit bezahlt. Aber oft arbeitete er und bekam keinen Lohn.

Die Entscheidung, das Mittelmeer zu überqueren, ist uns nicht leichtgefallen. Ich hatte grosse Angst. Das war unser vierter Versuch. Jedes Mal, wenn wir aufgegriffen wurden, haben sie uns mit unserem Kleinkind eingesperrt, dabei war unsere Tochter erst wenige Monate alt.
Man hat uns geschlagen. Aber wir hatten keine Wahl, als über das Meer zu fliehen. Wir konnten nicht nach Hause zurück. Wenn wir in unsere Heimat zurückgekehrt wären, wäre unsere Tochter beschnitten worden.

Man hat uns zwischen 22 und 23 Uhr aufs Meer geschickt. [Anmerkung: die Rettung fand am nächsten Tag, am Mittwoch dem 19. Februar 2020, zwischen 10 Uhr 30 und 12 Uhr 45 statt.] Können Sie sich das vorstellen, eine so lange Zeit auf dem Wasser? Wir haben gebetet. Wir haben geweint, die ganze Zeit geweint. Und das mit den Kindern. Es war unerträglich. Es geht einem dabei alles Mögliche durch den Kopf. Man kann auf dem Meer sterben. Mir wäre es jedenfalls lieber gewesen, zu ertrinken, als von den Libyern verhaftet zu werden. [Anmerkung: Maimouna spricht hier von der libyschen Küstenwache.] Wenn die dich aufgreifen, misshandeln sie dich.

Es ist nicht einfach, das Meer zu überqueren, besonders nicht in einem so kleinen Boot. Aber wir hatten keine Wahl. Jeder Mensch hat ein anderes Leben. Ich musste es auf diese Weise versuchen. Ich will nicht, dass meine Tochter ebenfalls beschnitten wird. Für mein Kind tue ich alles. Meiner Meinung nach muss eine Mutter für ihr Kind kämpfen. Mein Mann glaubt das auch. Er sagt: „Was meiner Frau passiert ist, darf nicht auch meinem Kind passieren.“ Wir sind beide bereit zu sterben, um unsere Tochter zu beschützen. Für sie haben wir das alles auf uns genommen. Um sie zu beschützen.“

***
Interview: Laurence Bondard, Communication Officer an Bord der Ocean Viking // Februar 2020
Übersetzung: aus dem Französischen von Jochen Matthies, Lektorat: Sonja Finck
Photo credits: Anthony Jean / SOS MEDITERRANEE

*Der Name wurde geändert, um die Anonymität der Geretteten zu wahren.