Logbuch

Im Ungewissen gelassen: Bericht von der Ocean Viking über das Schiffsunglück vom 22. April

Die folgende Zusammenfassung gibt Einblicke in die Ereignisse vom späten 20. April bis zum 22. April – beginnend mit dem Erhalt eines ersten Notrufes durch die zivile Hotline Alarm Phone; und dem Bezeugen der Folgen eines tragischen Schiffsunglücks durch unser Team an Bord. Es kostete bis zu 130 Menschen in internationalen Gewässern vor Libyen das Leben.

Dieser Überblick beleuchtet ausserdem den Informationsfluss während dieser Tage und die fehlende Kommunikation sowie Austausch von Informationen maritimer Behörden mit der Ocean Viking, dem einzigen dedizierten NGO-Such- und Rettungsschiff in diesem Gebiet zu dieser Zeit. Eine vollständige und detaillierte Darstellung der Kommunikation zur und von der Brücke der Ocean Viking kann in unserem Online-Logbuch onboard.sosmediterranee.org eingesehen werden.


Am späten Dienstagabend, 20. April, erhält die Ocean Viking einen ersten Notruf zu einem Holzboot mit ca. 40 Personen an Bord. Die letzte bekannte Position ist zu diesem Zeitpunkt ca. 10 Fahrstunden von der Position der Ocean Viking entfernt. Die Ocean Viking beginnt im Laufe der Nacht, die Position anzusteuern. Sowohl Alarm Phone als auch die Ocean Viking halten die zuständigen Behörden (LYJRCC [1], MTRCC [2], ITMRCC [3]) durchgehend auf dem Laufenden.

Am Mittwochmorgen, 21. April, erhält die Ocean Viking zwei weitere Notrufe von Alarm Phone durch eine E-Mail, die von Alarm Phone an die relevanten Behörden mit der Ocean Viking in Kopie gesendet wird. In beiden Notfällen geht es um Schlauchboote in Seenot mit jeweils 100-130 Personen an Bord. Beide liegen weit östlich von dem Gebiet, in dem die Ocean Viking aktiv nach dem ersten Notfall sucht, für den es in der Nacht zuvor einen Alarm gab.

Das Team auf der Ocean Viking sucht am Mittwoch, 21. April, den ganzen Tag über nach dem Boot des ersten Notrufs. Die Brücke hört die UKW-Kommunikation [4] zwischen einem nicht identifizierten Flugzeug und der libyschen Küstenwache mit, in der das Flugzeug der libyschen Küstenwache Koordinaten durchgibt, die höchstwahrscheinlich der Position einer der beiden Notfälle im Osten entsprechen, über die Alarm Phone am Morgen alarmiert hat.

Die Internationale Organisation für Migration bestätigt, dass eines der Schlauchboote abgefangen und am Mittwoch, 21. April, nach Libyen zurückgebracht wurde.

Um 17:50 Uhr am Mittwoch, 21. April: Nachdem es nicht gelungen ist, den ersten Seenotfall zu lokalisieren, verlässt die Ocean Viking das Gebiet und nimmt Kurs auf den Standort der verbleibenden Schlauchboote in Seenot [5]. Die letzte bekannte Position des verbleibenden Seenotfalls ist zu diesem Zeitpunkt 121 NM von der Ocean Viking entfernt – ein Minimum von zehn Stunden Fahrt.

Bereits am 21. April stellen die Wetterbedingungen im zentralen Mittelmeer eine Gefahr für diejenigen dar, die versuchen, in seeuntüchtigen Schlauchbooten aus Libyen zu fliehen. Das ist selbst bei vollkommen ruhiger See lebensgefährlich. Am Abend verschlechtern sich die Wind- und Seebedingungen weiter, und die Wellen erreichen in der Nacht bis zu sechs Meter.

In diesem rauen Wetter erreicht eine besorgniserregende Nachricht die Brücke der Ocean Viking: Um 19.15 Uhr am Mittwoch, den 21. April, setzt ein nicht identifiziertes Objekt einen ersten MAYDAY-Ruf [6] auf UKW-Kanal 16, dem üblichen Seenotfunkkanal, ab. Durch die öffentlichen Erklärungen von Frontex nach den Ereignissen vermuten wir, dass es sich um ein Frontex-Flugzeug handelte. Dies ist der erste Alarm für das Boot in Seenot, von dem wir wissen, dass er an alle Schiffe in diesem Gebiet gesendet wurde. 

Als Reaktion auf den MAYDAY-Ruf ändern drei Handelsschiffe ihren Kurs und steuern den Einsatzort an. Ein weiterer MAYDAY-Ruf wird um 20:25 Uhr auf UKW-Kanal 16 von einem nicht identifizierten Objekt weitergeleitet.

Eines der an der Suche beteiligten Schiffe ist die M/V ALK. Zehn Minuten später wird auf der Brücke der Ocean Viking eine UKW-Kommunikation zwischen der M/V ALK und Lampedusa Radio, einer Küstenfunkstelle, die als Aussenposten der italienischen Küstenwache dient, mitgehört: Die M/V ALK leitet die MAYDAY-Nachricht an Lampedusa Radio weiter und bittet um Anweisungen. Der Funker von Lampedusa Radio antwortet, dass die Notposition innerhalb der libyschen Such- und Rettungszone liegt und weist die M/V ALK an, die Ocean Viking zu kontaktieren.

In den frühen Morgenstunden des Donnerstags, 22. April, erreicht die Ocean Viking das Gebiet der letzten bekannten Position des in Seenot geratenen Schlauchboots, das etwa neun Stunden zuvor per MAYDAY-UKW-Alarm empfangen wurden (Alarm Phone wird erstmalig ca. 20 Stunden zuvor alarmiert). In Koordination mit den Handelsschiffen M/V MY ROSE, M/V ALK und M/T VS LISBETH beginnt die Ocean Viking mit der Durchführung eines Suchmusters.

Um 7:35 Uhr ruft die Ocean Viking das ITMRCC an und bittet um Unterstützung aus der Luft. Die Crew der Ocean Viking ruft um 8:55 Uhr das Frontex-Büro an und bittet um Luftunterstützung bei der Suche nach dem Boot in Seenot. In beiden Fällen erhält die Ocean Viking keine Informationen darüber, ob Frontex Einsatzkräfte in das Gebiet entsandt hat oder entsenden wird. Am späten Morgen trifft das Frontex-Flugzeug Osprey 3 vor Ort ein.

Um 12 Uhr informiert die M/V MY Rose das Frontex-Flugzeug Osprey 3, dass ihre Crew Sicht auf drei Leichen im Wasser hat. Die Ocean Viking ruft daraufhin Osprey 3 an und bittet um Informationen zu dem Fall. Die Crew fragt ausserdem, wer diesen koordiniert. Osprey 3 antwortet, dass sie nur an der Suche teilnehmen, aber den Fall nicht koordinieren. Das Frontex-Flugzeug Osprey 3 und das Handelsschiff M/V ALK werden durch die Crew der Ocean Viking über deren Kapazitäten und Möglichkeiten informiert, die Leichen zu bergen. Wir erhalten diesbezüglich keine Anweisungen von den Seebehörden.

Zwanzig Minuten später entdeckt Osprey 3 das Wrack des Schlauchbootes und übermittelt seine Position über den UKW-Kanal 16 an die an der Suche beteiligten Schiffe.  Eines dieser Schiffe, die M/V ALK, verlässt den Einsatzort. Das Handesschiff teilt über UKW mit, dass das Patrouillenschiff der libyschen Küstenwache, UBARI, den Fall koordiniert. Die UBARI ist zu diesem Zeitpunkt nicht vor Ort.

Um 14:00 Uhr hat die Crew der Ocean Viking Sicht auf das Wrack und auf mehrere Körper im Wasser.

Im Laufe des Nachmittags ruft die Crew der Ocean Viking mehrmals beim LYJRCC an, um zu fragen, wann das Patrouillenschiff der libyschen Küstenwache vor Ort eintreffen wird. Das LYJRCC bestätigt, dass das Patrouillenboot UBARI unterwegs ist. Bei Einbruch der Dunkelheit ist das Patrouillenboot noch nicht eingetroffen und die Ocean Viking hat zu diesem Zeitpunkt noch keine Anweisungen vom LYJRCC erhalten.

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[1] Libyan Joint Rescue Coordination Centre
[2] Maltese Maritime Rescue Coordination Centre
[3] Italian Maritime Rescue Coordination Centre
[4] Mobiler Seefunkdienst über Kurzwelle
[5] Das Notruftelefon Alarm Phone hat Informationen über den Verbleib der knapp 41 Personen erhalten. Die Menschen auf diesem Boot haben überlebt und Tunesien erreicht.
[6] Das Sprechfunk-Notzeichen MAYDAY zeigt einen Seenotfall an und leitet die Seenotmeldung ein.

Fotonachweis: Flavio Gasperini / SOS MEDITERRANEE