Logbuch

[Blick auf das zentrale Mittelmeer #16] EU-Diskussionen über Such- und Rettungsmassnahmen beginnen inmitten massenhafter Zwangsrückführungen nach Libyen, anhaltender Verluste von Menschenleben und unzureichender Rettungskapazitäten

[17.03.21-30.03.21] Auf Grundlage öffentlicher Berichte anderer NGOs, internationaler Organisationen und der internationalen Presse geben wir einen Überblick zu Such- und Rettungseinsätzen in den letzten zwei Wochen im zentralen Mittelmeer. Dieser hat nicht den Anspruch auf Vollständigkeit, verschafft aber einen Eindruck über die Entwicklungen in dem Gebiet, in dem wir seit 2016 als Such- und Rettungsorganisation tätig sind. 

2021: bisheriges Rekordjahr an Zwangsrückführungen im zentralen Mittelmeer

Die Zahl der Menschen, die von der durch die Europäischen Union (EU) ausgebildeten und ausgerüsteten libyschen Küstenwache auf See abgefangen und nach Libyen zurückgezwungen wurden, ist seit Jahresbeginn sprunghaft angestiegen. Dieser Trend wurde in den vergangenen zwei Wochen von UN- und Nichtregierungsorganisationen, die auf See oder in Libyen tätig sind, erneut beobachtet. Dies zu einer Zeit, in der Wetter- und Seebedingungen für die Abfahrt von Booten von der libyschen Küste günstig waren.

Nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration (IOM) in Libyen wurden am vergangenen Wochenende innerhalb von 48 Stunden fast 1.000 Menschen auf See abgefangen und in das Land zurückgezwungen, aus dem sie geflohen waren. Diese Praxis verstösst gegen geltendes Seerecht, da in Seenot aufgefundene Menschen an einem sicheren Ort ausgeschifft werden müssen. Libysche Häfen sind keine sicheren Orte: Den meisten dieser Menschen – Männer, Frauen und Kinder – droht bei ihrer Rückkehr willkürliche Inhaftierung.

Mit diesen neuen Massenrückführungen steigt die Zahl der auf See abgefangenen Personen im Jahr 2021 auf etwa 5.000 an – dies entspricht fast der Hälfte der abgefangenen Personen im gesamten Jahr 2020.

Die Crews der zivilen Flugzeuge Colibri 2 (Pilotes Volontaires) und Seabird (Sea-Watch) haben am 27., 28. und 29. März mehrere Boote in Seenot gesichtet. Sie berichteten, mehrere Rückführungen durch die libysche Küstenwache beobachtet zu haben. Auch die zivile Hotline Alarm Phone meldete zahlreiche Notrufe. IOM-Sprecherin Sara Msehli berichtet ausserdem von weiteren Rückführungen sowie einem Schiffsunglück, das am 30. März mindestens fünf Menschen das Leben kostete.

Zudem berichteten italienische Medien in den letzten Tagen von „autonomen“ Anlandungen auf den Inseln Lampedusa und Pantelleria. Die Boote waren von Tunesien oder Libyen aus in See gestochen .

Zwei zivile Rettungsschiffe retten 335 Menschen

Die Crew der NGO Open Arms rettete am 27. und 29. März 219 Menschen aus drei Booten in Seenot in der maltesischen Such- und Rettungszone (SRR). Am 30. März wurden eine dabei gerettete schwangere Frau und ihr Bruder von der italienischen Küstenwache notevakuiert. Die Zuweisung eines sicheren Ortes für die Geretteten an Bord der Open Arms durch die Behörden steht noch aus.

Unsere Crew an Bord der Ocean Viking rettete in zwei Einsätzen in der libyschen Such- und Rettungsregion am 18. und 20. März 116 Menschen. Zwei Drittel der Geretteten waren Minderjährige, darunter 51 ohne Begleitung eines Elternteils oder eines anderen Erziehungsberechtigten. Weitere Informationen zu diesen Rettungseinsätzen finden Sie in unserem Online-Logbuch.

Alle Geretteten konnten am 23. März in Augusta, Italien, von Bord gehen, nachdem sie zunächst von unserer Crew und anschliessend von den italienischen Gesundheitsbehörden an Bord auf das COVID-19Virus getestet wurden. Dabei wurden sechs Gerettete mit Schnelltests positiv auf das Virus getestet. Die Crew der Ocean Viking befindet sich nun um Hafen von Augusta in einer 14-tägigen Quarantäne, die von den italienischen Gesundheitsbehörden angeordnet wurde.

Am 18. März wurde die Ocean Viking von der zivilen Hotline Alarm Phone über einen Seenotfall informiert: An Bord eines Schlauchbootes sei ein Feuer ausgebrochen.

Unsere Crew suchte nach diesem Boot, konnte es aber nicht ausfindig machen. Daraufhin wurde diese von der libyschen Rettungsleitstelle (Joint Rescue Coordination Centre (JRCC)) informiert, dass die libysche Küstenwache ein Boot in den libyschen Hoheitsgewässern abgefangen und 45 Menschen nach Libyen zurückgebracht hatte. Fünf Personen würden vermisst. Alarm Phone meldete später, dass gemäss Zeugenaussagen tatsächlich bis zu 60 Menschen vermisst werden.

Europäische Treffen unterstreichen die Dringlichkeit der Umsetzung neuer nachhaltiger Ansätze

Vor zwei Wochen trafen sich fünf südeuropäische Staaten in Athen, Griechenland, und forderten die „Solidarität“ der anderen EU-Mitgliedstaaten bei der Bewältigung der Aufnahme von Migrant*innen durch die Umsetzung vorhersehbarer Lösungen anstelle von Ad-hoc-Lösungen.

In der darauffolgenden Woche eröffnete EU-Kommissarin Ylva Johansson das erste Treffen der neuen “European Search and Rescue Contact Group”, die im vergangenen September in der Kommissionsempfehlung als Teil des Migrations- und Asylpaktes angekündigt wurde. In ihrer Eröffnungsansprache forderte sie unter anderem die Notwendigkeit einer „verstärkten Koordination und Kooperation zwischen den Schiffen, die gerettete Personen transportieren, und den nationalen Behörden„.

In einem Blogbeitrag erklärte Kommissarin Johansson ausserdem: „Nichtregierungsorganisationen betreiben Schiffe mit dem Ziel, Menschen auf See zu retten. Im vergangenen Jahr haben diese NGO-Schiffe insgesamt 3.597 Menschen aus dem Wasser gerettet. Ich applaudiere ihren Bemühungen„.

Die ersten Schritte in Richtung eines europäischen Ansatzes für die Suche und Rettung von Menschen auf See„, der alle Beteiligten einbezieht, wird von SOS MEDITERRANEE und anderen zivilen und privaten Akteuren seit mehreren Jahren gefordert. Es ist dringend notwendig, diesen Dialog offen und konstruktiv zu führen, um weitere Tote in naher Zukunft zu vermeiden.

Nach einer erneuten Inspektion der Sea-Watch 3 durch die italienische Küstenwache am 21. März wurde das zivile Schiff zum zweiten Mal innerhalb von zehn Monaten durch Behörden festgesetzt. Zuvor durften Anfang März 363 Gerettete in Augusta von Bord des Rettungsschiffs gehen. Die NGO Sea-Watch ficht die Festsetzung als politisch motiviert an, während sie auf eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs in der Frage der wiederholt an Bord ihrer Schiffe durchgeführten Hafenstaatkontrollen warten.

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Fotonachweis: Anthony Jean / SOS MEDITERRANEE