Logbuch

[BORD-TAGEBUCH] „Es ist unsere Aufgabe, weiter auf die Situation im Mittelmeer aufmerksam zu machen“ – Interview mit Michael, Rettungsteammitglied von SOS MEDITERRANEE, zur aktuellen Situation

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­­Während die Pandemie alle Aufmerksamkeit auf sich zieht, drohen andere Notsituationen, wie die anhaltende humanitäre Krise im Mittelmeer, in Vergessenheit zu geraten.  Michael, Rettungsteammitglied von SOS MEDITERRANEE, hat seine Gedanken zur aktuellen Situation mit uns geteilt. Er ist ausgebildeter Notfallsanitäter und Medizinstudent. Von August bis Oktober 2019 war er als Seenotretter an Bord der Ocean Viking.

Wie geht’s dir? Was machst du gerade?

Eigentlich geht’s mir gut. Ich hänge mit gebrochenem Fuss in den ersten Zügen meines digitalen Semesters. Wir haben mittlerweile wieder Toilettenpapier, aber das ist ein schwacher Trost in Anbetracht all der Dinge, die um uns herum passieren.

Was meinst du damit? Was treibt dich um?

Unsere Gesellschaft ist im Angesicht der Ausbreitung des Coronavirus (SARS-COV2) plötzlich mit ungewohnt existenziellen Fragen konfrontiert. Die medizinischen und sozialen Herausforderungen sind enorm. Über diese Entwicklungen einen Überblick zu behalten, nachzudenken, um eine Haltung entwickeln zu können, ohne dabei reizüberflutet zu werden, empfinde ich als persönliche Herausforderung. Schon die Omnipräsenz des Themas macht deutlich, dass sich allein über all diese Aspekte lange reden liesse. Aber währenddessen gerät eben Vieles aus dem Blickfeld. Dinge, die schon vorher total inakzeptabel waren und jetzt nochmal eine andere Brisanz bekommen.

Magst du das ausführen? Welche Auswirkungen siehst du für die zivile Seenotrettung?

Ohne Anspruch auf Vollständigkeit gern. Da ist die kritische Lage an den europäischen Aussengrenzen.

An der bosnisch-kroatischen Grenze leben tausende Geflüchtete unter katastrophalen Umständen, ohne Zugang zu ausreichender medizinischer Versorgung, hygienischen Grundstandards. Schutzmechanismen sind absent.

In den Geflüchtetencamps der Ägais und auf dem griechischen Festland herrschen völlig inakzeptable Zustände.

Kommt es dort zu einem Ausbruch von SARS-COV2 wird das fatale Auswirkungen haben.

Für Menschen, die in libyschen Gefangenenlagern festgehalten werden, sieht es nicht besser aus.

Der anhaltende kriegerische Konflikt zwischen der Einheitsregierung und den Truppen Haftars setzt sie besonderen Risiken aus. Fehlende sanitäre Anlagen und medizinische Versorgung machen auch hier COVID-19 zu einer unkontrollierten Bedrohung. Ein Ausbruch könnte laut UNHCR zu einer „humanitären Katastrophe“[1] führen.

Die Gründe, warum Menschen die Flucht über das Mittelmeer riskieren, sind nach wie vor vorhanden. Unabhängig davon, ob Schiffe vor Ort sind, um die Menschen aus den völlig seeuntauglichen Booten zu retten.

Das haben die letzten Wochen erneut auf tragische Weise gezeigt. Italien[2], Malta[3] und anschliessend sogar Libyen haben ihre Häfen als nicht sicher deklariert[4]. Es wurde von Verzögerungen in der Bearbeitung von Seenotfällen berichtet, obwohl diese lange bekannt waren.  Für Schiffe ziviler Rettungsorganisationen fehlen erneut verlässliche politische Lösungen. Gleichzeitig wurden sie vom deutschen Innenministerium Anfang des Monats aufgefordert, „Fahrten“ in das zentrale Mittelmeer zu unterlassen. Auch wenn in diesem herausfordernden Kontext gewisse Beschränkungen bestehen, resultiert diese Aufforderung in einer weiteren Dezimierung lebensrettender Einsätze für Menschen in Not.

Seit Jahren fordern Organisationen wie SOS MEDITERRANEE ein proaktives Such- und Rettungsprogramm, sowie ein vorhersehbares und koordiniertes  Ausschiffungssystem im Einklang mit internationalem Recht. Forderungen, die weiterhin Gültigkeit haben. Auch unter extremen Umständen sind europäische Staaten in der Pflicht, zu retten und zu handeln!

Das Problem ist, dass die allerorts politisch und medial beschworene europäische Solidarität die Situation vieler Menschen gar nicht mehr in den Blick nimmt. Dadurch werden neue Probleme geschaffen, deren Ausmass nicht nur im Hinblick auf eine Ausbreitung von SARS-COV2 einen ungemein grösseren Handlungsbedarf nach sich zu ziehen droht.

Was heisst das für die Situation im Mittelmeer?

Für mich resultiert daraus, dass wirkliche Solidarität über Grenzen hinweg nötiger, denn je ist. Sie fängt mit dem Augenmerk auf die Themen, die gerade wenig oder gar keine Aufmerksamkeit erhalten, an und muss sich in zivilgesellschaftlichem Engagement fortsetzen. Warum? Schon lange ist ein sukzessiver Rückzug der Europäischen Staaten aus der Seenotrettung zu beobachten. Die neue EUNAVFOR MED Mission IRINI ist nur ein weiteres Beispiel dafür. Das Einsatzgebiet dieser neuen Marinemission, die zur Durchsetzung des Waffenembargos für Libyen ins Leben gerufen wurde, liegt fernab der Fluchtrouten aus Libyen – unter anderem, um die mögliche Rettung von Menschen in Seenot zu vermeiden.

Gerade ist kein ziviles Rettungsschiff vor Ort und das Mittelmeer droht einmal mehr zur Blackbox zu werden. Wie viele Menschen die gefährliche Flucht riskieren, vielleicht dabei umkommen oder nach Libyen zurückgezwungen werden? Wir wissen es nicht mit Bestimmtheit. Aber das Osterwochenende hat gezeigt, dass Menschen weiter vor den schrecklichen Bedingungen in Libyen fliehen.

Gerade deswegen ist es unsere Aufgabe weiter auf die Situation im Mittelmeer aufmerksam zu machen, die Öffentlichkeit zu informieren und die Erfahrungen, der Geretteten, die wir an Bord hatten, weiter zu geben.  Dafür brauchen Organisationen wie SOS MEDITERRANEE den Rückenwind aus der Zivilgesellschaft. Wegschauen ist keine Alternative. Denn was im Mittelmeer und drumherum passiert, geht uns alle an!

Photo credits: Laurence Bondard / SOS MEDITERRANEE

[1] UNHCR / 03. April 2020 / Libyen: Verschärfung der humanitären Krise aufgrund von Konflikten und COVID-19-Bedrohung

[2] The Guardian / 08. April 2020 / Italy declares own ports „unsafe“ to stop migrants arriving

[3] Reuters / 09. April 2020 / Malta says it can no longer rescue, accept migrants

[4] IOM / 09. April 2020 / Libya Considers Its Ports Unsafe for the Disembarkation of Migrants