Logbuch

[STIMMEN DER GERETTETEN] „Das Haus durfte ich nicht verlassen. Nie!“

Yussif* ist 17 Jahre alt, aus Somalia und ist ohne Begleitperson an Bord der Ocean Viking gekommen. Am 19. Februar 2020 wurde er von unseren Teams von einem Schlauchboot in Seenot gerettet.

“Ich heiße Yussif. Ich komme aus Somalia und bin 17 Jahre alt. Ich weiß nicht, wie ich eigentlich nach Libyen gekommen bin. Es war nie mein Plan, dort zu landen. Ich habe nicht verstanden was passiert ist. Ich weiß noch nicht einmal genau, wie lange ich dort war. Ich weiß bloß, dass ich 2018 nach Libyen kam und dass es jetzt 2020 ist. Also habe ich ungefähr 2 Jahre dort verbracht, vielleicht etwas weniger.

Als ich jünger war, musste ich mehrmals vor den Shahab aus meinem Heimatdorf in Somalia fliehen. Meine Großmutter nahm mich aus unserem Dorf mit, als ich noch klein war, weil sie wollte, dass ich zur Schule gehe. Doch einige Jahre später kehrte ich zu meinen Eltern zurück. Manchmal kamen die Terroristen in unser Dorf und in ihrer Anwesenheit konnten wir unsere Häuser nicht verlassen. Die Menschen verließen ihre Häuser nur, um Lebensmittel zu besorgen. Aber selbst das war sehr gefährlich. Vor meiner Ankunft in Libyen lebte ich bei einer Gruppe von Männern, die mir Englisch beibrachten. Ich lebte mit ihnen, weil sie Englischlehrer waren und ich so viel lernen wollte wie möglich. Sie sagten mir, dass Englisch überall auf der Welt nützlich sei. Manchmal bezahlte ich sie, manchmal wurde ich umsonst unterrichtet.

Bevor wir nach Libyen gingen, mussten wir einmal mehr vor den Shahab fliehen. Wir nahmen ein Auto und diesmal sagten sie mir, dass wir etwas weiter fliehen würden; dass es besser für uns sei. Ich dachte, sie meinten ein paar Dörfer weiter, aber ich weiß nicht was passierte, auf einmal waren wir in Libyen und wurden in ein Gefängnis gebracht.

Im Gefängnis wurden die Menschen jeden Tag geschlagen. Es war nicht leicht. Ich war dort vier oder fünf Monate. Und eines Tages entschloss ich, gemeinsam mit einigen Freunden, davonzulaufen. Wir liefen alle in verschiedene Richtungen – ich weiß nicht, wo sie jetzt sind. Ich lief und lief und lief eine sehr lange Zeit, bis ich erschöpft war. Irgendwann konnte ich einfach nicht mehr. Ich war so müde, dass ich auf offener Straße kollabierte und dort, auf der Straße, liegenblieb, um mich auszuruhen. Ich wusste nicht wo ich war. Ein Libyer sah mich, kam zu mir und fragte mich, was mit mir los sei. Ich antwortete nicht. Ich stellte mich vor lauter Angst tot. Doch dann bot er mir Essen und Hilfe an.

Wir gingen zu ihm nach Hause, wo ich ungefähr anderthalb Jahre blieb. Ich erledigte die Hausarbeit für ihn; das Haus durfte ich nicht verlassen. Nie! In dieser ganzen Zeit verließ ich das Haus kein einziges Mal. Ich war wie sein Sklave. Ich weiß nicht in welcher Stadt das war. Durch die Fenster konnte ich nur ein paar andere Häuser in der Umgebung sehen.

Mit meinen Eltern habe ich, seitdem ich nach Libyen gebracht wurde, nicht mehr gesprochen. Ich weiß nicht wo sie sind oder wie es ihnen geht. Ich hoffe, dass ich sie anrufen kann, sobald ich an einem sicheren Ort bin.

Viele Dank, für all das, was ihr für uns getan habt und alles, das ihr tut. Ihr leistet tolle Arbeit. Vielleicht werde ich eines Tages Retter. Das würde mir gefallen.

In Somalia hatte ich überlegt, Informatiker zu werden. Es ist die einzige Perspektive, die uns vorgeschlagen wird. In meiner Heimat sagen sie, es sei das einzige was heutzutage Sinn mache. Aber jetzt werde ich vielleicht andere Möglichkeiten entdecken. Ich möchte so viel lernen wie ich nur kann.“

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Interview: Laurence Bondard, Communication Officer an Bord der Ocean Viking // Februar 2020
Photo credits: Anthony Jean / SOS MEDITERRANEE